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Archäologisches Puzzlespiel: Eine Mauer durch die Stadt

Milet im Wandel: Berlins Antikensammlung zeigt die Ergebnisse jüngster Ausgrabungen. Dem Besucher wird dabei allerdings einiges an archäologischem Spürsinn abverlangt.

Wenigstens waren die Bilderstürmer mit einer gewissen Delikatesse vorgegangen bei der Entmannung des Satyr. Sie benutzten feines Gerät, um die steinerne Figur ihres Geschlechts zu berauben, und brachen es nicht einfach grob ab wie beim über zwei Meter großen Heros vor dem Markttor von Milet. Ein Dübelloch an pikanter Stelle verrät nun, dass der Kolossalstatue bereits in der Antike das Kostbarste abhandengekommen war, sie damals aber noch Ersatz erhielt. Erst die christlichen Eiferer späterer Zeit leisteten ganze Arbeit – mit dem Ergebnis, dass die Forschung umso genauer auf die Leerstellen schaut. Welcher Bestimmungswechsel hat hier stattgefunden, fragt sie sich. Welche Funktion wurde übernommen? Dienten die heidnischen Figuren fortan nur noch der Dekoration?

Beim Satyr wollte es die nächste Generation jedenfalls nicht allein bei einer Entfernung des Genitals belassen. Sie gravierte auch noch zwei Kreuze auf die nackte Brust des Knaben, um ihm endgültig die Lustbarkeiten auszutreiben. Dennoch fanden die Archäologen den Torso im Nymphäum von Milet, einem prachtvollen Brunnengebäude, und damit an prominenter Stelle in der vorderasiatischen Metropole. Mit dem Wissen um solche Veränderungen erscheint die Antikensammlung plötzlich nicht länger statisch, ihre Objekte bewegen sich in einem Zeitkontinuum. Das Pergamonmuseum wird zum Schaufenster eines dynamischen Prozesses, der fast 2000 Jahre zurückliegt. "Zeiträume – Milet in Kaiserzeit und Spätantike“ ist deshalb die Ausstellung überschrieben. Sie präsentiert wenige Monate nach Restaurierung des Markttors von Milet die Ergebnisse jüngster Ausgrabungen. Was vor über hundert Jahren an der türkischen Küste als Kampagne der Antikensammlung unter Theodor Wiegand begann, findet nun seine Fortsetzung in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Archäologischen Institut.

Vom Markttor zum Stadteingang

Das weltweit größte andernorts wieder aufgebaute antike Monument wirft bis heute Fragen auf. Neuesten Erkenntnissen nach soll es nicht mehr hadrianisch, also in den 120er Jahren errichtet worden sein, sondern trajanischen Ursprungs und damit in den 110er Jahren entstanden sein. Zu einem archäologischen Puzzlespiel aber wird das 29 Meter breite und 16 Meter hohe Bauwerk durch den Wechsel seiner Funktion vom Markttor zum Stadteingang und der daraus folgenden Umkehrung der Schauseite. Das ursprünglich innerstädtische, den Übergang von Agora zu Südmarkt markierende Bauelement wurde in der Spätphase in die quer durch die Stadt verlaufende Mauer integriert, die als Schutzwall gegen einfallende Sarazenen und Araber diente. Ein Türsturz macht diesen Wechsel deutlich. Ursprünglich wurde er als Türpfosten bei einem unbekannten Gebäude verwandt. Unter Justinian aber zierte der über drei Meter breite Marmorblock mit einer bombastischen Bauinschrift des Kaisers das mittlere Tor. "Heiliger Gott, Heiliger Starker, Heiliger Unsterblicher, erbarme dich unser!“ prangte nun darauf als Begrüßung. Auf dem Gemäuer einstiger Tempel standen bereits christliche Kirchen.

Der Museumsbesucher aber muss sich bemühen, diesen Geschichten einer kontinuierlichen Stadtveränderung auf die Spur zu kommen. Ihm wird archäologischer Spürsinn abverlangt, auch wenn die Stücke durch violette Schrifttafeln und Podeste herausgehoben sind. Die mit 22 Objekten eher sparsam ausgestattete Exposition verteilt sich auf das ganze Museum, genauer: drei Räume der Dauerausstellung. Neben dem Saal mit dem Markttor, in dem historische Fotos an die über hundertjährige Grabungsgeschichte der Berliner Antikensammlung erinnern und 3-D-Modelle im Zeitraffer die zunehmende Verlandung der kleinasiatischen Metropole in der Antike demonstrieren, wird der Besucher erst wieder im ersten und schließlich im letzten Saal des Nordflügels fündig.

Dafür belohnen ihn kuriose Formen der Weiterverwendung, etwa jener Gruppe zweier Thronender. Den beiden Frauen fehlen die Köpfe. Untersuchungen der Einsatzlöcher ergaben, dass sie in späterer Zeit neue Köpfe erhielten, vermutlich, um sie dem neuen Dekorationskanon anzupassen. Gefunden aber hat man sie in der Stadtmauer. Zuletzt waren die beiden Schönen gerade gut genug als Füllmaterial.

- Antikensammlung, Pergamonmuseum, Museumsinsel, bis 10. Januar; tägl. 10-18 Uhr, Do bis 22 Uhr. Katalog (Schnell + Steiner Verlag) 16 €.

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