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© Davids/Radke

Ausstellung: Die Überwindung der Schwerkraft

Stahl, Kohle, Blei: Jannis Kounellis verwandelt den Mies van der Rohe-Bau der Neuen Nationalgalerie Berlin in ein Labyrinth.

Vor vier Jahren, nach der großen MoMA-Ausstellung, sorgte ein Bildhauer mit einer minimalistischen Geste für den Kehraus der klassischen Moderne und platzierte wenige Granitblöcke in die Haupthalle der Neuen Nationalgalerie. Nach dem Spektakel kehrte mit Ulrich Rückriem die Stille in den gläsernen Kubus von Mies van der Rohe zurück. Das gleiche Prinzip waltet nun mit Jannis Kounellis als Nachfolger der „Schönsten Franzosen“. Wo sich zuvor die Besucher drängten, um die Schätze des New Yorker Metropolitan Museum zu sehen, ragen nun eiserne Wände auf. Stahl, Kohle und Blei prägen das Werk des in Rom lebenden Griechen, dem bedeutendsten Vertreter der arte povera.

Wie bei der MoMA-Schau wird den flirrenden Farben der Impressionisten nun die schiere Präsenz wuchtigen Materials gegenüber gestellt – ein grandioser Akt, der einerseits die Delikatesse der bis vor kurzem gezeigten Gemälde in der Erinnerung steigert, andererseits die brachiale Kraft von Jannis Kounellis betont. Der Besucher betritt nun ein stählernes Labyrinth aus knapp 300 Metern Wand, von mehreren Tonnen Kohle bekrönt.

Zum dritten Mal nach 1981 und 1988 stellt der Bildhauer, der Anfang der Achtziger als Daad-Stipendiat in der Stadt lebte, in der Neuen Nationalgalerie aus. In den Neunzigern kehrte er mit einem geborstenen Schiff für die große „Metropolis“-Schau 1991 im Martin-Gropius-Bau zurück, 1994 entwarf er das „Elektra“-Bühnenbild für die Staatsoper. Jetzt zieht der Siebzigjährige die Bilanz seines Lebenswerks, eine glückliche Fügung von Zeit und Ort. Denn der gebürtige Grieche, der zutiefst in der Antike und deren Mythen wurzelt, reagiert kongenial auf den Tempel der Moderne von Mies van der Rohe. Im Handstreich hat er sich die 2000 Quadratmeter Ausstellungsfläche einverleibt, indem er sie mit einem gigantischen Irrgarten bespielt, an dessen Ecken und Weggabelungen der Besucher auf immer wieder neue Werke aus den vergangenen 46 Jahren trifft.

Wer zuvor befürchtet hatte, dass die Materialschlacht aus Kohle und Stahl und das für Kounellis typische Prinzip der Wiederholung seiner ikonografischen Ideen einen Überdruss produzieren würde, sieht sich überrascht. Die 2,35 Meter hohen Labyrinthwände wirken unter der luftigen Decke der Neuen Nationalgalerie keineswegs erdrückend, sondern wie ein ausbalancierter Kontrapost. Und die knapp dreißig, zum Teil monumentalen Stücke erscheinen geradezu sparsam platziert. Der Besucher bewegt sich erstaunlich leichtfüßig von Werk zu Werk, obwohl ihn das reine Gewicht und die Tristesse der Farben von Rostbraun, Stahlgrau und Kohleschwarz – hinterfangen vom Berliner Novemberhimmel – melancholische stimmen müssten.

Kounellis ist längst ein Klassiker, der das von ihm entwickelte Setting meisterlich orchestriert. Im Gegensatz zu Bildhauerkollegen wie Günther Uecker oder Rebecca Horn, die in ihrem Alterswerk plötzlich zu opernhaften Requisiteuren werden, inszeniert er mit vollendeter Eleganz ein Bühnenstück. Wohnt schon dem einzelnen Werk Theatralik inne, so entwickelt sich aus dem Zusammenspiel der Objekte eine ganze Partitur. Die Chronologie spielt keine Rolle; Kounellis unternimmt seine Lebenskunstreise im offenen Kontinuum der Zeit.

Was verbirgt sich hinter den zwölf im Kreis aufgestellten Stühlen, auf deren Sitzflächen zwölf schwere schwarze Stoffsäcke liegen? Was bedeuten die vier an ihren Griffen mit Jutestoff umwickelten Schlachtermesser, die aus einer Stahlwand spitz in den Raum ragen? Welche Geschichte steckt hinter den 14 Wintermänteln, die an einer Garderobe aus Fleischerhaken hängen? Man hat diese Anordnungen als Verweise auf Abu Ghraib oder andere aktuelle politische Szenarios gelesen. Darin besteht die Wirkmacht der von Kounellis geschaffenen Bilder: dass er die scheinbar tote Materie mit Leben auflädt und den klapprigen Bettgestellen, ausrangierten Nähmaschinen sowie den mit Kaffee, Bohnen, Linsen gefüllten Jutesäcken eine historische Bedeutung verleiht.

Die Nähe zu Joseph Beuys, der wie Kounellis ebenfalls in den Sechzigern den Ausstieg aus den Bildern propagierte und stattdessen aus „armen Materialien“ auratische Installationen arrangierte, ist unübersehbar. Doch wo sich bei Beuys der Sinnzusammenhang nur schwer erschließt, erzählt Kounellis Geschichten, die der Betrachter intuitiv versteht. Es ist das Drama der industriellen Revolution – verkörpert durch die Materialien Kohle und Stahl –, die ihre Kinder auffrisst. Jedes Stück Stoff, jeder Scheit Holz, jeder Wust ungesponnener Wolle liest sich in dieser Umgebung als Symbol vernichteter Natur und verdrängten menschlichen Lebens. Der Künstler arbeitet mit dem Pathos antiker Mythen. Sein Werk lässt sich als Ausdruck des Lebenskampfs schlechthin interpretieren.

Kounellis selbst sieht sich als moderner Odysseus, der als Zwanzigjähriger von seiner Heimatstadt Piräus aufgebrochen ist, um in Rom an der Akademie zu studieren. Seitdem ist er nicht mehr nach Griechenland zurückgekehrt, sondern muss die Abenteuer der Kunst bestehen. Die größte Gefahr meisterte er zu Beginn seiner Karriere, als er Industriematerialien zu seinem Werkstoff erklärte. Die Zeit war reif, der spröden Konzeptkunst den Krieg zu erklären. Was als Ausbruch begann, hat am Ende ins Museum zurückgeführt. Der White Cube wurde von der arte povera nicht beschmutzt, sondern erschien im Gegenteil umso edler. Mit Kounellis kehrt die Antike in die Gegenwartskunst zurück.

Neue Nationalgalerie, Potsdamer Str. 50, bis 24. 2.; Katalog (Hatje Cantz) folgt.

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