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Charlotte Salomon

© dpa

Ausstellung: Fluchtpunkt Südfrankreich

Ein Leben als Bildergeschichte: Charlotte Salomons autobiografische Zeichnungen im Jüdischen Museum Berlin.

Sie ist gern ins Kino gegangen: auf einem der Blätter sieht man sie mit einer Freundin, vor der Litfaßsäule, wie sie sich einen Film aussucht. Ein Großstadtkind der 30er Jahre: kurzer Faltenrock, Bubikopf. Aufs Kino hat sie sich auch bezogen, als sie sich 1940 in Südfrankreich hinsetzt, um ihre bisherige Lebensgeschichte aufzuschreiben: als Bildergeschichte, halb Comic, halb Opern-Libretto – und eben mit kinematografischen Slow-Motion-Effekten. Da wird gezeigt, wie die Tante Charlotte das Haus verlässt, um Selbstmord zu begehen, und man sieht eine kleine Gestalt, die die Treppe herunterkommt, die Straße entlanggeht, um die Ecke biegt, bis zum Fluss, um sich hineinzustürzen – mindestens 30 kleine Tanten in einem Bild.

Zu naheliegend wäre es, Charlotte Salomons Werk ausschließlich als außergewöhnliche Biografie zu lesen: die Geschichte eines Berliner Bürgerkinds, das vor den Nationalsozialisten nach Südfrankreich flieht, um dort, als 23-Jährige, innerhalb von nur eineinhalb Jahren, auf 1325 Blättern, ihre Lebensgeschichte auf Papier zu bringen. Im Jüdischen Museum Berlin sind nun 277 ausgewählte Gouachen in einer Sonderausstellung zu sehen: Zeugnisse von glücklicher Kindheit und früher Auseinandersetzung mit dem Tod der Mutter, von erster Liebe, von Exil und Einsamkeit. Bilder vom Einbruch des nationalsozialistischen Schreckens in eine heile Kinderwelt, ein Bildertagebuch, das dem der Anne Frank an die Seite gestellt werden kann. 1943 stirbt Charlotte Salomon, 26-jährig, in Auschwitz. Ihr Bilderbuch wird nach dem Krieg den überlebenden Eltern und von diesen dem Jüdischen Museum Amsterdam übergeben. Nach ersten Ausstellungen in den Achtzigern wird Charlotte Salomon erst Ende der Neunziger international bekannt. Seit zwei Jahren ist die vom Amsterdamer Museum organisierte Ausstellung auf Deutschland-Tournee und findet nun in Berlin, Charlotte Salomons Geburtsstadt, ihren Abschluss. Die fragilen Blätter werden so bald nicht mehr öffentlich zu sehen sein.

Doch mit der Einordnung als Holocaust-Kunst wird man Charlotte Salomons Werk nicht ganz gerecht. Sicher, ein Zeitdokument ist ihre Bilder-Biografie auch, in den gesichtlosen Massen am Tag der Machtergreifung, in der lakonischen Schilderung, wie der Vater, anerkannter Chirurg, ebenso aus dem Dienst entlassen wird wie die Stiefmutter Paula Lindberg, eine berühmte Sängerin, „Aus – Raus“ heißt es in der Bildlegende. Zeitungsberichte über Reichspogromnacht und Kriegsbeginn sind in das Bildprogramm integriert, in Frankreich dringen französische Ansagen aus dem Radio.

Doch einzigartig ist vor allem, wie Salomon vorgeht. Schnell hingetuschte, sehr bunte Blätter sind im Jüdischen Museum zu sehen, dazu Bildlegenden, oft in das Blatt hineingeschrieben, die im Ton von Operntexten gehalten sind, Arien, Duette, manchmal dramatisch, manchmal reimend, oft lakonisch zugespitzt. Kursiv sind dazu die Musikstücke angegeben, die die Künstlerin bei der Arbeit inspiriert haben, angestrebt ist ein Gesamtkunstwerk: Das Leben als Theater. Die künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten differieren stark, von Blatt zu Blatt. Manchmal, bei längeren Textpassagen, gibt es ganze Blätter, auf denen nur Köpfe zu sehen sind, immer wieder die gleichen Köpfe, und der Text steht dann daneben. Dann wieder Straßenszenen, die in ihrer expressionistischen Härte an Kirchner oder den frühen Beckmann erinnern. Gefällige Mädchensilhouetten, wie sie aus den damaligen Modeblättern bekannt sind, man denkt an Lotte Laserstein, an Lieselotte Friedlaender. Dann wieder Blätter, die wie ein Comic in einzelnen Bildflächen aufgeteilt sind, daneben düster eingefärbte Traum- und Erinnerungssequenzen, die von Angst und Einsamkeit sprechen, dann wieder sich fast ins Nichts auflösende Bilder, fahrige Pinselstriche, dazu ein wilder, hingeschmierter Schriftzug, Verzweiflungszeichen etwa beim Tod der Großmutter. Hier war eine flexible Hand am Werk, die zu jeder Szene die passende Bildform wählt, flink und ungeheuer treffgenau.

Vor allem aber war eine junge Künstlerin am Werk, die genügend Humor, genügend Selbstbeobachtung mitbringt, um den Prozess einer eindrucksvollen Erwachsenwerdung zu beschreiben. Das gilt für die Schwärmerei für ihre Stiefmutter Paula, im Bilderzyklus Paulinka Bimbam genannt, und vor allem auch für die Schilderung ihrer ersten großen Liebe. Alfred Wolfsohn, im Bildtext Amadeus Daberlohn, war ursprünglich in den Haushalt gekommen, um Paula Lindberg zu coachen, in die er sich schwärmerisch verliebt. Doch als sie ihn abweist, wendet er sich der zeichnenden Stieftochter zu, flirtet mit ihr am See, ermutigt sie in ihren künstlerischen Versuchen und gibt ihr vor der Abreise mit auf den Weg: „Vergiss nie, dass ich an dich glaube.“

Daran hat sie sich gehalten: Charlotte Salomon ist auf fast trotzige Art lebensbejahend, ihr ganzes Werk ist ein einziges „Trotzdem“. Spät erst, im französischen Exil, lernt sie von ihrem Großvater, dass ihre Familie mütterlicherseits schwer suizidgefährdet ist: Mutter und Tante, Großmutter und Onkel haben sich, in depressiven Phasen oder unter dem Druck der nationalsozialistischen Verfolgung, das Leben genommen. Du bist die nächste, prophezeit ihr der durch Internierung demoralisierte, schwer kranke Großvater. Doch Charlotte Salomon hält dagegen: Es gelte, sich das Leben zu nehmen – oder etwas „ganz verrückt Besonderes“ zu unternehmen. Das ist ihr gelungen.

Jüdisches Museum Berlin, bis 28. Oktober. Katalog (Prestel-Verlag) 24,90 €

Christina Tilmann

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