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Fotografie: Flirt mit der Wahrheit

Räuber, Racker, Revolutionäre - er wollte Emotionen sichtbar machen: Retrospektive des Magnum-Fotografen Leonard Freed bei C/O Berlin.

Bukarest, Weihnachten 1989. Eine Gruppe junger Demonstranten kauert hinter einem Bus, wird pausenlos beschossen. Von den Dächern feuern Scharfschützen, Angehörige des Geheimdienstes Securitate, die dem stürzenden Diktator Ceausescu die Treue halten. Mittendrin kniet der Magnum-Fotograf Leonard Freed. Er drückt ununterbrochen auf den Auslöser seiner Kamera, macht querformatige Bilder der Gruppe. Auch der 60-jährige Amerikaner hat Angst, begreift aber schnell, dass seine Bilder chaotisch sind. Er scheint das Ereignis visuell nicht in den Griff zu kriegen.

Also wechselt er die Haltung, schießt nun im Hochformat und entdeckt inmitten der Hockenden ein aneinandergeschmiegtes Pärchen. Freed geht näher ran, rückt es in den Bildmittelpunkt, drückt weiter auf den Auslöser: Er spürt, dass er in wenigen Augenblicken sein Bild haben wird. Da wenden beide für den Bruchteil einer Sekunde ihre Köpfe – schauen mit angstvoll geweiteten Augen in seine Richtung. Freed drückt ab. Er knipst noch den Rest des Schwarz-Weiß- Films voll, doch das einzige brauchbare Bild ist Negativ Nr. 27. Es fasst nicht nur die rumänische Revolution in zwei erschrockenen Gesichtern zusammen, sondern offenbart auch die große Kunst des Fotografen Leonard Freed: dramatisch, voller Empathie, von universeller Gültigkeit. Er hat den historischen Moment in ein poetisches Bild gegossen.

Eine „Weltanschauung“ überschriebene Retrospektive Freeds ist nun in der Berliner C/O-Galerie zu sehen: 230 Silbergelatineabzüge, ausgewählt aus rund einer Million Negative, Auszüge eines 50-jährigen Schaffens, vorwiegend in Nachkriegseuropa, den USA und Israel. Das Interesse des 1929 in Brooklyn geborenen Jahrhundertfotografen galt dabei stets – es mag banal klingen – den einfachen Menschen und ihrem beschwerlichen Leben. Gebäude und Landschaften dienten ihm lediglich als Rahmen für die emotionalen Dramen, die er abzubilden suchte.

Allein die Anzahl der verschossenen Filme macht deutlich, wie sehr Freed um eine visuelle Sprache zwischen Journalismus und Kunst kämpfte. Während seine Anfangsbilder aus den fünfziger Jahren noch starr und distanziert sind, findet er in den Folgejahrzehnten Stil und Form in kontrastreichem Schwarz-Weiß. Er fotografiert das farbige Harlem, begleitet die New Yorker Polizei bei ihren Einsätzen, bereist Deutschland und das unruhige Israel. Hier wird Freed seinem strengen Anspruch gerecht, dass die Menschen auf seinen Fotos wie Romanfiguren zu wirken hätten, deren Storys sich in seinen Bildern kristallisieren. 1965 etwa porträtiert er einen deutschen Antikriegsaktivisten, auf dessen Kaffeetisch Fotos des uniformierten Vaters und Großvaters lehnen. Die Geschichte Deutschlands auf einen Blick.

Einige von Freeds Bildern sind zu Ikonen des 20. Jahrhunderts geworden, etwa das der schwarzen Mädchen, die im heißen Sommer 1963 kreischend vor einem aufgedrehten Hydranten stehen. Oder die Leiche des mit drei Kopfschüssen hingerichteten Mafia-Opfers, die zwischen den Luxuskarossen in einer Tiefgarage liegt. Andere deuten auf das autobiografische Motiv des Juden Freed bei der Themenauswahl hin. Auf einigen seiner Deutschlandbilder aus den sechziger Jahren wird das Frösteln geradezu spürbar, das ihn angesichts der mürrisch- misstrauischen älteren Herrschaften in Baden-Baden und Hannover erfasst haben muss. „Ich bin kein Journalist, ich bin Autor“, hat Freed sich und seine Arbeit einmal zu beschrieben versucht. „Ich will Emotionen sichtbar machen.“

Freeds Aufstieg zu einem der wichtigsten Reportagefotografen des 20. Jahrhunderts war wohl nur in den USA möglich. Seine Eltern gehörten zum Proletariat, beide waren aus Minsk eingewandert, der Vater arbeitete als Schreiner. Nach der Schule betätigte sich Freed zunächst als Grafikdesigner und Drucker. Die ihn am stärksten prägende Erfahrung aber machte er auf einer zweijährigen Europareise. Der 23-Jährige, der seine Kamera als Tagebuchersatz nutzt, stößt auf die Arbeiten Cartier-Bressons – und ist wie elektrisiert. 1954 verkauft er sein erstes Foto an eine Amsterdamer Zeitung, setzt sich in den Zug nach Köln, erwirbt eine Leica und fotografiert den Karneval. Als er im Jahr darauf in die Vereinigten Staaten zurückkehrt, knüpft er sofort Kontakte zu Kollegen und macht sich wieder auf den Weg nach Europa. Anfangs veröffentlicht er in der Zeitschrift der Amsterdamer Heilsarmee. Doch schnell werden Zeitungen und Kuratoren auf seine Bilder aufmerksam und bestellen Arbeiten bei ihm. Zu Freeds späteren Kunden gehören das „New York Times Magazine“, der „Stern“, „Geo“ und „Paris Match“. 1967 bringen Freeds Sozialreportagen ihn zur Gruppe „The Concerned Photographer“ um Cornell Capa und Robert Capa. 1972 wird Freed Vollmitglied der hochexklusiven Magnum-Agentur.

„Letztendlich handelt die Fotografie davon, wer du bist“, hat Freed einmal gesagt. „Sie ist die Suche nach der Wahrheit und deiner Beziehung zu ihr.“ Die Wahrheit und Freed, der 2006 im Alter von 67 Jahren an Krebs starb, hatten einen heftigen, poetischen Flirt.

C/O Berlin, Postfuhramt, Oranienburger Straße/Ecke Tucholskystraße, bis 5. Oktober; täglich 11–20 Uhr.

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