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Henri Rousseau: Mann an der Grenze

Zum 100. Todestag richtet die Fondation Beyeler dem Maler Henri Rousseau eine Werkschau aus

An kaum einem Ort in der Welt zeigt sich ländliche Idylle und Moderne so glücklich vereint wie in dem 1997 eröffneten Museum der Basler Fondation Beyeler. Vom Flachdachbau Renzo Pianos schweift der Blick über eine Auenlandschaft hinüber zur Ottilienkirche auf einem Hügel im deutschen Lörrach: ein Ort an der Grenze, ein Ort der aufgehobenen Gegensätze. Bis Anfang Mai ist hier nun eine Werkschau mit 39 hochkarätigen Gemälden des vor 100 Jahren verstorbenen Henri Rousseau zu sehen, jenes malenden Autodidakten, der wegen seiner Anstellung bei der Pariser Zollbehörde „le douanier“genannt wurde.

Erst 1988 erwarb der Kunsthändler Ernst Beyeler eines der zentralen Werke Rousseaus, das großformatige Dschungelbild „Le lion, ayant faim, se jette sur l’antilope“ aus den Jahren 1898/1905. Mit einem realen Urwald hat der Dschungel Rousseaus wenig gemein. Das emailartig gemalte Blattwerk schichtet sich mit unendlichen Grünnuancen zu einem flächigen All-Over, durch das ein lieblich-hellblauer Horizont schimmert. Löwe und Antilope erscheinen körperlos, erstarrt in der Bewegung. Rechts sitzt ein Panther im Geäst, darüber eine Eule, links stapft ein behaartes Vogelwesen durchs Gezweig, als hätte ein Surrealist vom Schlag eines Max Ernst den Pinsel geführt. Dem von Publikum und Kritik belächelten Künstler brachte das Gemälde auf dem Salon d’Automne in Paris 1905 den späten Durchbruch. Der Kunsthändler Ambroise Vollard kaufte es für 200 Francs. Pablo Picasso dagegen kaufte zwei Jahre später ein großes Frauenporträt bei einem Trödler für nur fünf Francs. Es begleitete ihn ein Leben lang und ist nun im ersten Saal zu sehen.

In Basel wird deutlich, warum Rousseau bis in die zweite Jahrhunderthälfte von der breiten Öffentlichkeit als „Naiver“ missverstanden wurde, ein Künstler für Künstler blieb, geschätzt und verehrt von Delaunay, Léger, Picasso, Kandinsky, Marc und Beckmann. Betrachtet man zum Beispiel das frühe Bildchen eines „Don Juan“, zeigt sich der unbeholfene Wille, es der akademischen Kunst der Zeit nachzutun. Rousseau will akademisch brillieren, doch er kann es nicht. So kommt er mit der Zähigkeit eines Spießers zu einem Bildaufbau, der zeitgleich mit Cézanne den jahrhundertelang gültigen perspektivischen Illusionsraum kündigt und die Gesetze der Wahrscheinlichkeit, Schwerkraft und Anatomie außer Kraft setzt. Rousseaus Bilder berühren nicht wegen ihrer Naivität – dazu sind sie zu grausam im Sujet, zu unheimlich in ihren Setzungen. Sie berühren, weil sie wie der Widerhall aus einer Welt tönen, von der wir eine ferne Ahnung, doch zu der wir keinen Zutritt haben.

Nach der Tübinger Retrospektive 2001, die Rousseau als einen Gründungsvater der Moderne vorstellte, und der Ausstellung „Jungles in Paris“ 2005 in der Tate Modern, die den historisch-biografischen Kontext auffächerte, bietet nun die Basler Schau die Möglichkeit, Rousseau „pur“ zu erleben. Die Anbindung an seine Rezeption gelingt aber mit einem Gang durch die ständige Sammlung mühelos.

Freilich hätte man nun gerne auch Rousseaus Prager Selbstportrait gesehen, die schlafende Zigeunerin mit Löwe aus dem New Yorker MoMA oder die apokalyptische Reiterin „Der Krieg“ aus dem Musée d’Orsay. Doch was die Kuratoren Philippe Büttner und Christopher Green vom Courtauld Institute zusammengetragen haben, ist atemberaubend. Man ist der Kunst des Zöllners auf der Spur, wenn die berühmte „Schlangenbeschwörerin“ zum Beispiel der kleinbürgerlichen Hochzeitsgesellschaft an der Wand gegenüber aufspielt. Oder wenn der Ball der Rugbyspieler aus dem Guggenheim-Museum der untergehenden Sonne im späten Dschungelbild „Forêt vierge“ gleich daneben verdächtig ähnlich sieht. Und so entdeckt man bei Rousseau das Unheimliche vor allem im Vertrauten, die viel zu großen Hunde, den Katarakt im Hintergrund des Frauenportraits aus Picassos Besitz, oder die undurchdringliche Natur, in der die Figuren Rousseaus erscheinen.

Rousseau zeigt sich als Maler an den Grenzen und Übergängen. Auf merkwürdige und doppelsinnige Weise passt er damit an den Grenzort Riehen und in die Fondation Beyeler: Denn der Basler Großvater mütterlicherseits und Namenspate von Ernst Beyeler war nicht nur ein Zeitgenosse von Henri Rousseau, sondern teilte mit diesem auch den Beruf. Sie waren beide Zöllner.

Fondation Beyeler, Riehen bei Basel, bis 9. Mai 2010.

Max Glauner

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