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Roger Melis: Das Auge eines Landes

C/O Berlin zeigt das grandiose Werk des DDR-Weltfotografen Roger Melis in einer Retrospektive.

Wir erblicken eine wunderliche, weil nicht mehr existierende Welt. Da qualmt eine Straßenteer produzierende Dampflokomotive vor der Dresdner Residenz und daneben der Schuttberg der Frauenkirche, und nicht einmal der tiefe Himmel darüber hätte sich Mitte der 60er Jahre eine Wiederauferstehung träumen lassen. Oder die Uckermärker Dorftänzer, die Waldarbeiterinnen im abbrennenden Unterholz, die Kutscher und Köhler und die Sauschlachter, der stolze Dachdeckergeselle unter seiner Ziegellast; Menschen aus der einstigen DDR, aber wie vitale Aussterbende noch einmal für die Nachwelt ins Porträt gerückt, als seien sie Erben jener Galerie der deutschen Stände und Berufe, mit der vormals August Sander Fotogeschichte geschrieben hatte.

Hier aber sind wir bei Roger Melis. Und sehen zudem die berühmten, teils schon verfemten Künstler: Wolf Biermann in seiner Chausseestraßenwohnung 131, diese Ostberliner Mischung aus Factory und Harem, mit Biermanns Gitarre, Gemälden und den blonden Frauen in den durchlebten Fauteuils; oder die Dichterin Sarah Kirsch, nach der Biermann-Ausbürgerung selber auf dem Sprung in den Westen, eine Koboldin auf ihren Umzugskartons – und später die vom Gefängnis bedrohte Liedermacherin Bettina Wegner am Tag vor der Ausreise, vor einer leeren Wand mit den Schattenrändern ihrer Existenz.

„Ich habe eine Abneigung gegen Kunstwillen und Künstlichkeit in der Fotografie. Man sollte bei einem Fotografen nicht darüber staunen, wie er gearbeitet hat, sondern höchstens darüber, was er gesehen hat.“ Diese beiden Sätze von Roger Melis sind nun im letzten Raum der anrührend grandiosen Retrospektive zu lesen, die C/O Berlin dem im letzten September gestorbenen Bildkünstler im alten Postfuhramt widmet. Dem Künstler, der keiner sein wollte – nur ein „Chronist und Flaneur“ (so der Untertitel der Ausstellung), ein genauer Hingucker mit der Kamera. Mit ihr ist er zum Auge der Menschen, Städte und Landschaften eines versunkenen Landes geworden.

Roger Melis, 1940 in Berlin geboren als Sohn eines Bildhauers, aber aufgewachsen im Haus seines Stiefvaters Peter Huchel, des Dichters und lange einflussreichen, später geschassten Chefredakteurs der Zeitschrift „Sinn und Form“, Melis wurde groß in der DDR, die er mit kritischer und zugleich menschenfreundlichster Anteilnahme wahrnahm. Am liebsten in Schwarz-Weiß, mit dem Sinn für allen Reichtum der Grautöne.

Ihn konnte keine Ideologie verbiegen. Der dünne Schnee über den Wüsten der DDR-Chemie war keine wattige Verklärung, aber Roger Melis vermochte spektakulär unspektakulär auch private Idyllen selbst in Bitterfeld zu entdecken. Und wenn er Massenaufmärsche und Paraden aufnahm, dann kamen die Herrschenden allein auf ihren grotesken Monumentalplakaten vor. Sein Blick galt den kleinen, von den pathetischen Pappgenossen nur zum optischen Schein erschlagenen Bürgern. Galt immer den jungen, selbstbewussten Frauen: Melis hat Arbeiterinnen mit der gleichen natürlichen Grazie fotografiert wie Dichterinnen oder die Models der DDR-Modezeitschrift „Sibylle“.

Ein ähnlich waches Auge hatte er für Jugendliche und Kinder. Roger Melis begegnet ihrer Neugier mit der eigenen Lust am entdeckerischen Moment am Blick hinter Kulissen und Verkleidungen. Ob der hier abgebildete Stadtindianer aus Hoppenrade oder eine Szene aus Moskau: Melis hat auch auf dem Roten Platz das Gespür für die Sensationen des Alltags. Sonne, auf der Freifläche nur zwei Personen, ein Spiel von Licht und Schatten, von Formen und Figuren: die Kopfbedeckung eines Polizisten korrespondiert mit Kirchenkuppeln im Hintergrund. Aber da ist ein einsamer Junge, der sich im Halbschatten vorbeugt, um etwas Verborgenes am Gürtel des Polizisten zu erspähen: eine Waffe, ein Funkgerät?

Bei der dichtgedrängten Ausstellungseröffnung am Freitagabend nannte Tagesspiegel-Autorin Kerstin Decker in einer kurzen, kenntnisreichen Ansprache Roger Melis einen „Meister der diskreten Indiskretion“. Tatsächlich sind seine oft verblüffenden Effekte immer die stillen, uninszenierten. So die Ansicht der Neuen Wache in Berlin Unter den Linden mit einem wiederum weiten abgesperrten Platz und einer Menschenmenge tief im Hintergrund. Beherrschend erscheinen zunächst zwei martialische Posten vor der Wache, doch die wahren Protagonisten sind: zwei kleine Tauben. Sie stolzieren als einzige Lebewesen auf dem riesigen Vorplatz – und dies just wie im militärischen Gleichschritt. Ein Detail macht so den Staatsakt zur komischen Szene.

In Vitrinen liegen die Cover für Wolf Biermanns frühe Platten (W. B. hat seinem Fotofreund am Eröffnungsabend ein kleines, bejubeltes Konzert gewidmet). Oder das westdeutsche „Geo“-Heft von 1982 mit Melis’ Bildern aus dem Erzgebirge und einem Text des DDR-„Staatsfeinds“ Erich Loest – seitdem durfte Melis in der DDR keine Pressefotos mehr veröffentlichen. Dafür wurde sein schmaler Bildband „Paris zu Fuß“ mit 40000 Exemplaren zur imaginären Reisesehnsuchtserfüllung der DDR-Leser.

Doch dieses fast archaisch romantische Paris gibt es so wenig wie Melis’ Moskau oder Warschau mehr. Mit vielen, zum Teil erst posthum entdeckten Bildern lehrt die von Melis’ Stiefsohn Mathias Bertram zusammen mit Felix Hoffmann kuratierte Schau so auch den pompejanischen Blick. Und er setzt sich fort in den schönen, im Leipziger Lehmstedt Verlag erschienenen Melis-Bildbänden. Nach dem Kultbuch „In einem stillen Land“ und den „Künstlerporträts“ erscheint dort alsbald „Am Rande der Zeit“. Diese Zeit ist nie zu spät.

Roger Melis: Chronist und Flaneur. Bis 2. Mai bei C/O Berlin, Oranienburger Str. 35/36, tägl. 11 bis 20 Uhr, Eintritt 8 € / 5 €.

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