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Spanische Kunst: Der religiöse Schock

Die Londoner Nationalgalerie zeigt spanische Kunst des 17. Jahrhunderts. Eine exzellent konzentrierte Auswahl von 35 Werken reicht für einen Augenöffner.

Selbst nüchternen Protestanten aus dem Norden wird sonderbar zu Mute, wenn in der Semana Santa in Sevilla die Heiligen aus ihren Kapellen geholt und durch die Straßen getragen werden. Blaskapellen mit markerschütternder Trauermusik, barfüßige Büßer in Ku-Klux-Klan Kapuzen, schließlich die „Costaleros“, die sich die tonnenschweren, silberbeschlagenen „Pasos“ auf die Schultern heben, auf denen hoch oben die Holzheiligen schwanken, Tableaux vivants aus der Passionsgeschichte, die Mater Dolorosa, deren Glasperlentränen im Fackellicht schimmern, Jesus, dem das Blut von der Dornenkrone rinnt.

Nun hat die Londoner Nationalgalerie diesen Komplex aus Kitsch und Ritual mit kühnem Griff aus der Folklore Spaniens ins Museum und in die Kunstgeschichte geholt, wo das alles bisher keinen rechten Platz hatte. Eine exzellent konzentrierte Auswahl von 35 Werken reicht für einen Augenöffner: 16 polychrom gefasste Holzskulpturen, die noch nie das Licht eines Museums erblickten, geschweige denn außerhalb Spaniens zu sehen waren, werden in einen Dialog mit Malerei der Zeit gesetzt. „Auf dem Papier sah es nach einer einfachen Idee aus“, so Kurator Xavier Bray. „Die Verwirklichung dauerte zehn Jahre, weil die meisten Skulpturen noch im Andachtsdienst sind.“

Mit ihren Glasaugen und Elfenbeinzähnen, den Fingernägeln aus Horn und den Wundmalen aus gekrümeltem Kork scheinen dieser Holzplastiken aus der Effektenwerkstatt von Mel Gibson zu kommen. Man meint, das Blut zu riechen, das an Pedro de Menas Halbfigur dem gemarterten Christus hyperrealistisch über Brust und Bauch läuft und dann von seinem Lendentuch aufgesaugt wie von einem Wattebausch. Aber im Schummerlicht der Galerie wird das auch für hartgesottene Agnostiker zur Herausforderung, denn dies ist Kunst im höchsten und heiligsten Sinne, noch in den feinsten Details von maßvollem Können geleitet und kontrolliert, zart, mitfühlend, fromm gemacht, um nach dem Wunsche der gegenreformatorischen Auftraggeber, „die Sinne zu erschrecken und die Seelen aufzuwühlen“.

In der Kunstgeschichte bildet dieser Polychromrealismus das Gegenmodell zum intellektuell-klassischen Begriff der Skulptur als idealisierter, Stein und Marmor gewordener Körperlichkeit. Hier ist das fehlende Glied einer Kette, die zu gotischen Holzplastiken zurückreicht, deren polychrome Fassungen im 19. Jahrhundert auf der Suche nach abstrahierender Transzendentalität abgeschrubbt wurden. Sie geht noch weiter zurück zum Parthenon Fries, der einmal bunt bemalt war. Und sie reicht in unsere Zeit zu den Glasfaserfiguren eines Duane Hanson oder Ron Mueck. Ihr Schock-Illusionismus hat etwas durchaus Zeitgemäßes.

Aber diese Anknüpfung an eine von bilderstürmischen Instinkten verschüttete Bildtradition ist nur der erste Schritt. Im zweiten geht es um Malerei. Ausgangspunkt für den Ausstellungsmacher war Diego Velazquez'' Londoner Gemälde der Maria Immaculata. Sie steht nach der spanischen Ikonografie auf der Mondsichel, den Sternenkreis um das Haupt, aber Velazquez hat das mystische Marienbild realistisch in der Caravaggio-Tradition gemalt und eine kraftvolle junge Spanierin mit Pausbacken als Modell genommen, wahrscheinlich seine Frau. Sein Realismus geht noch weiter: Man möchte diese gemalte Madonna um den Leib fassen und aus dem Bild herausheben wie eine Holzfigur, so plastisch bringen Licht und Schatten die Dreidimensionalität der Gewandfalten heraus. Es ist, als habe Velazquez eine der polychromen Holzfiguren gemalt, die in der Werkstatt seines Schwiegervaters und Lehrers Francisco Pacheco darauf warteten, durch die polychrome Fassung oder „encarnaçion“ zum Leben erweckt zu werden.

Plastik und Malerei bildeten in der spanischen Kunstpraxis des 17. Jahrhunderts, besonders in Andalusien, eine symbiotische Einheit: Holzplastiken wie Juan de Mesas Gekreuzigter wurden durch Maler wie Pacheco vollendet. Zunftgesetze setzten die Maler als Vollender ans Ende der Produktionskette. Die Maler folgten der plastischen Kunst und wetteiferten mit ihr. Francisco de Zurbarán malte den Gekreuzigten, der im Dominikanerkonvent San Pablo in Sevilla hinter einem Gitter hing, so realistisch, dass er im Dämmerlicht wie eine Skulptur wirkte. Dann setzte er dem Spiel der Illusion noch eins drauf und heftete dem Gemälde seine Signatur als gemalten Trompe-l''œil Zettel an, als wolle er die ganze Illusion in die Zweidimensionalität zurückholen.

Dunkle, neutrale Hintergründe, die Schatten, die diese gemalten Figuren werfen, ihre wie geschnitzt modellierten Gewandfalten – in allem wird Plastik Maßstab und Ziel der Malerei. In einem Gemälde Zurbaráns steht der Maler-Heilige Sankt Lukas mit der Palette vor einem Kruzifix, als würde der Maler das Kunstwerk eines Holzplastikers bewundern. Noch weiter treibt Alonso Canos „Laktation“ des Heiligen Bernard von Clairvaux das Spiel: Die Madonna, die dem Heiligen ihre Muttermilch in den Mund spritzt, ist eine auf ihrem Podest stehende polychrome Holzplastik.

Dieser faszinierende Dialog von Malerei und Plastik lässt uns nicht nur die spanische Kunst des 17. Jahrhunderts neu begreifen, sondern überhaupt die Beziehung von Malerei und Skulptur. Pedro de Menas ekstatischem Franziskus aus der Kathedrale von Toledo können wir ins Gesicht leuchten, wenn wir das wollen. Bei Zurbaráns malerischen Varianten dieses Motivs bleibt das gemalte Gesicht des Heiligen im Schatten der Mönchskapuze, so viele Lampen wir auch darauf richten. An Gregorio Fernández'' lebensgroßem „Ecce Homo“ sehen wir die Geißelwunden, die aufgeplatzte Haut, grauslich echt mit Stofffetzen nachgebildet. Auf Velazquez’ Gemälde „Christus nach der Geißelung“ bleibt dieser gemarterte Rücken abgewandt und ungemalt, nur der Engel und die allegorische Figur der christlichen Seele im Bild sehen ihn.

Die Kraft der Skulpturen rührt daher, dass sie uns nichts ersparen und nichts unserer Fantasie überlassen. Die Bilder behalten ihre letzten Geheimnisse. In der Malerei führt die Imagination Regie.

National Gallery London, bis 24. Januar, Katalog broschiert 19,99 Pfund.

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