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"September. Fata Morgana": Schriftsteller Thomas Lehr ist für den Deutschen Buchpreis nominiert.

© Susanne Schleyer

Autor Thomas Lehr im Interview: „Ich fordere volle Konzentration“

Sein neuer Roman "September. Fata Morgana" ist der Favorit für den Deutschen Buchpreis, der am Montag verliehen wird. Hier spricht der Berliner Schriftsteller Thomas Lehr über den 11. September 2001, den Irakkrieg und sein Selbstverständnis als Künstler.

Herr Lehr, wissen Sie noch, was Sie am 11. September 2001 gemacht haben?

Ja, natürlich, ich habe am Schreibtisch gesessen. Um fünf Uhr nachmittags rief mich ein Freund an und erzählte, was passiert war. Ich hing vor dem Fernseher und nahm das Ganze schließlich auf Video auf. Ich wusste: Das ist ein historisches Ereignis und wird alles verändern.

Schon an dem Tag, als es passierte?

Mir war sofort klar, dass das der spektakulärste Terroranschlag vermutlich der gesamten Menschheitsgeschichte war. Und mir war klar, dass es Krieg geben würde, dass die Amerikaner sich das nicht gefallen lassen würden.

Hatten Sie an dem Tag auch schon den Plan, einen Roman darüber zu schreiben?

Ich habe zwar sofort angefangen, Material über den 11.9. zu sammeln, doch verband ich damit keine Schreibabsicht. Ich schrieb zu der Zeit an meinem Roman „42“. Dieses Materialsammeln zu 9/11 lief auf einer zweiten Spur, an eine Verwertung dachte ich nicht. Aber ich war betroffen. Und ich habe gemerkt, dass mich das Thema nicht in Ruhe lassen wird. Ich wollte es für mich bewältigen.

Seltsame Strategie: Material sammeln, um die eigene Bestürzung zu bekämpfen?

Ich bin Künstler. Mein Roman ist auch ein Projekt der Selbstaufklärung. Ich schreibe ja nicht, wie mir das jetzt in der „Zeit“ vorgeworfen wird, aus artistischer Tollerei. Ich war affiziert, und das schon seit dem Zweiten Golfkrieg 1991, der für mich der erste große Krieg war, den der Westen während meiner Erwachsenenzeit führte. Es dauerte Monate, bis ich wusste, dass ich über 9/11 schreiben kann.

Obwohl Ihr Roman bislang nur positiv aufgenommen wurde, ärgern Sie sich jetzt über diese eine negative Rezension?

Die hat schon was Therapeutisches. Es wäre ja verdächtig, wenn das Buch nur gefeiert würde. Aber mir vorwerfen, dass ich Kunst produziere! Natürlich mache ich Kunst. Ich schreibe doch nicht für Leute, die beim Bügeln lesen wollen.

Was war der Auslöser für Ihr Schreiben über 9/11?

Die Idee des sich überkreuzenden Dialogs.

Sie meinen den Dialog zwischen Westen und Nahem Osten, zwischen dem deutsch-amerikanischen Professor Martin, dessen Tochter Sabrina bei den Anschlägen stirbt, und dem irakischen Arzt Tarik, der bei einem Anschlag in Bagdad 2004 Frau und älteste Tochter verliert?

Genau. Meine vier Hauptfiguren erzählen das Geschehen jeweils aus ihrer Perspektive, ohne dass sich die deutsch-amerikanische und die irakische Seite je begegnet wären. Sie agieren wie in einer Art Kammerspiel. Das Ganze ist ein Oratorium mit vier Stimmen. Dazu habe ich mir Hilfe bei der Weltliteratur gesucht.

Zum Beispiel bei Goethe und seinem „West-Östlicher Diwan“.

Um den Orient und die arabische Literatur zu verstehen, musste Goethe sich ein Gegenüber suchen. Diese Idee faszinierte mich. Ein Gegenüber auf Augenhöhe, und dann fand er Hafis, den großen persischen Dichter des 14. Jahrhunderts. Goethe zitiert sowohl ihn als auch Gedichte, von denen wir heute wissen, dass sie von Marianne von Willmer stammen, einer der Frauen aus Goethes Leben, über die Martin ein Buch zu schreiben versucht. Goethe hat den Diwan dialogisch aufgebaut, so kam ich auf den Dialog als Strukturprinzip. Und so ist zu Martin, dessen Vorbilder ich in Massachusetts kennenlernte, der irakische Arzt Tarik gekommen. Das Korrespondierende zwischen Sabrina und Muna schließlich stammt aus „Tausendundeiner Nacht“.

Ihr Roman liest sich, als wären Sie in Bagdad gewesen, als hätten Sie im Irak viele Männer wie Tarik kennengelernt?

Ich war nie dort. Die Sicherheitslage in Bagdad und überhaupt im Irak ließ das nicht zu. Ich war in Jordanien und Syrien, um das Kolorit zu haben, ein Gespür für die Kultur zu bekommen. Am wichtigsten waren meine vielen Kontakte zu Irakern in Berlin, zu irakischen Kulturvereinen, besonders zu dem irakischen Dichter Fadhil al Azzawi, mit dem ich mich über Jahre über Gott, Allah, die Welt und sein Land unterhalten habe und der inzwischen mein Freund ist.

Einen Schriftsteller, den hierzulande kaum einer kennt?

Dabei hat er zahlreiche Romane geschrieben. Er ist in den USA viel bekannter, wird bei Simon & Schuster verlegt. Ich bin allerdings kurz davor, für ihn auch einen deutschen Verlag zu finden.

Die sichere Einfühlung in die irakische Kultur macht ihren Roman so bemerkenswert. Aber auch die Sprache: Er ist ohne ein Satzzeichen geschrieben, in einer lyrischen Sprache, was zunächst gewöhnungsbedürftig ist. Warum diese artifizielle Sprache?

Noch einmal: Ich bin Künstler. Jeder Künstler, der ein Bild malt, muss sich für einen Stil entscheiden, jeder Schriftsteller für eine Sprache. Es ging mir darum, ein brisantes Thema auf eine andere Art zu erzählen. Ich hatte zudem ein schlechtes Gewissen, so kurz nach so einem historischen Ereignis gleich einen Roman darüber zu schreiben. Ich brauchte Distanz, und die schafft diese Sprache. Die Ereignisse flirrten oft vor meinen Augen, deshalb „Fata Morgana“ im Titel. Ganz wichtig war mir der Rückbezug auf Homers „Illias“. Zwei Lehren zog ich daraus: Einen Krieg kann man nur von zwei Seiten wahrhaftig, oder besser: wahrhaftiger, darstellen. Und die Gesänge, die Hexameter, aus denen die „Illias“ besteht, schaffen Distanz zum Kriegsgeschehen. Das war mein Rüstzeug, so konnte ich die schrecklichen Dinge besser verstehen, bearbeiten. Literatur ist kein Spaß, keine Spielerei, sondern Arbeit, ernsthaftes Bemühen. Mich nervt diese Form der Literaturbetrachtung, in der es nur noch ums Amüsement geht. Ich bin auch kein Norman Mailer.

Aber warum die vielen einzelnen Absetzungen von Wörtern, von sehr kurzen Sätzen? Warum die Wörter in Versalien, die kursivierten Zitate und die Gedichte am Ende von vielen Kapiteln?

Ich fordere volle Konzentration, das stimmt. Doch bekommt der Roman durch Maßnahmen wie diese auch etwas Schwebendes. Er wird zugänglicher, verständlicher. Wäre er in einem Block gesetzt, wäre die Lektüre viel beschwerlicher. Manche Zäsuren und Hervorhebungen sind oft nur dem Rhythmus geschuldet, die haben oft keinen semantischen Wert. Dies ist ein musikalischer Text. Ich will mit dieser großen Formanstrengung im Übrigen den Beginn des 21. Jahrhunderts nachhaltig markieren. Formlose Romane schmeißt man schnell in die Tonne. Ich hoffe, dass meiner länger hält.

Haben Sie andere 9/11-Romane gelesen?

Der einzige, der mich interessiert hat, war Don DeLillos „Falling Man“. Den fand ich aber enttäuschend. Ich glaube, an dem Punkt, Katastrophen wie dieser eine literarische Nachhaltigkeit zu verschaffen, scheitert die aktuelle US-Literatur, man merkt gut, wie die Maschine abgleitet. Selbst DeLillo ist mehr dem Entertainment verpflichtet. Die Europäer sind da weiter. Schauen Sie sich Claude Simon oder Antonio Lobo Antunes an. Antunes hat über den Angola-Krieg auch ohne Punkt und Komma geschrieben, dem hat das keiner vorgeworfen.

Fünf Jahre dauerte die Arbeit an ihrem Roman. Können Sie sich das eigentlich leisten?

Ich bin pleite. Am Anfang waren es die Erlöse von „42“, die mich über Wasser hielten, 2008 war es ein Stipendium des Deutschen Literaturfonds, schließlich der Vorschuss meines neuen Verlages. Mein Privatvermögen aber ist aufgebraucht, und ich habe ja auch Familie.

Schon mit „42“ standen Sie 2005 auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises, den dann Arno Geiger gewann. Jetzt sind Sie erneut nominiert: Würde es Sie enttäuschen, den Preis wieder nicht zu gewinnen?

Nein. Ich bin sehr froh darüber, wie das Buch aufgenommen wurde. Das Prozedere des Buchpreises ist stressig, diese Rankings und Konkurrenzsituationen. Aber es profitieren alle davon. Der Preis hat den Fokus verstärkt auf die deutschsprachige Literatur gelegt. Dass manche Entscheidungen fragwürdig sind, gehört mit dazu. Aber ich schreibe ja nicht im Hinblick auf diesen Preis. Mein Roman sollte wirklich länger halten als ein Jahr.

Das Gespräch führte Gerrit Bartels.

Thomas Lehr, 52, ist Schriftsteller und lebt seit 1979 in Berlin. Sein 9/11-Roman "September. Fata Morgana" ist für den Deutschen Buchpreis nominiert.

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