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Filmszene aus "Avant les rues"

© Silver Sait PR

"Avant les rues" auf der Berlinale: Die Kraft der Bäume

Der Wald kann helfen: In Chloé Leriches Drama „Avant les rues“ über die Ureinwohner Kanadas findet ein Teenager wieder zu sich selbst. Ein Treffen mit Regisseurin und Hauptdarstellern.

Chloé Leriche kämpft mit den Tränen. Die Frage macht ihr zu schaffen: Was lernt man über sie, wenn man ihren Debütspielfilm „Avant les rues“ ansieht? Leriche braucht eine Pause. „Es tut mir leid, es ist für mich sehr emotional, mit dem Film hier zu sein“, sagt sie dann. In ein paar Stunden feiert „Avant les rues“ Premiere.

Die kanadische Regisseurin sitzt in Wollpullover und Leggins in einem Café am Potsdamer Platz. Neben ihr Jacques Newashish und Kwena Bellemare Boivin, zwei der Protagonisten in „Avant les rues“. Der Film spielt in einem Indianerreservat nahe Québec, gedreht in der Sprache der Atikamekw. Die beiden Darsteller – er älter, mit langem grauen Zopf, sie, ein Teenager – verstehen sich mehr als Botschafter der Ureinwohner denn als Schauspieler. Aber sie haben sich in der Geschichte wiedererkannt.

Die Widerstandskraft der Ureinwohner

Der Teenager Shawnouk (Rykko Bellemare) hadert mit dem Alltag im Reservat, seinen Stiefvater (Jacques Newashish) kann er nicht akzeptieren, die Schwester Kwena (Kwena Bellemare Boivin) ist jung Mutter geworden. Eines Nachts begeht Skawnouk mit einem Bekannten einen Einbruch. Sie werden vom Hausbesitzer überrascht, ein Schuss fällt, Shawnouk flieht in die Wälder Québecs, will sich später das Leben nehmen. Erst die Rituale seiner Ahnen helfen ihm, wieder zu sich zu finden. „Ich wollte ein größeres Verständnis für die Lebensweise der Ureinwohner Kanadas wecken. Ihre Energie zeigen, ihre Widerstandskraft“, sagt Leriche.

Chloé Leriche.
Chloé Leriche.

© Silver Sait PR

Die Geschichte zu "Avant les rues" drängte sich Leriche förmlich auf

Wer nachvollziehen will, warum sie die Arbeit an „Avant les rues“ so aufgewühlt hat, muss vielleicht zuerst begreifen, warum Leriche Filme macht. „Mein Vater ist gestorben, als ich vier Jahre alt war. Ich habe ihn durch ein Buch kennengelernt. Man kann einen Menschen durch seine Kunst kennenlernen.“ Aus der Angst, selbst zu sterben, erwuchs der Wunsch, etwas Bleibendes zu hinterlassen. Bereits als Teenager spielte Leriche Theater, malte, schrieb. Kino erschien ihr als ein noch vollkommeneres Medium, wenn auch ein kompliziertes. Sie begann, Kurzfilme zu drehen, die sie selbst produzierte – eine Autodidaktin. Ihre Werke liefen auf zahlreichen Festivals, darunter dem großen Publikumsfilmfest in Toronto, wo ihr Schulhof-Film „Les Grands“ es 2007 unter die Top 10 der kanadischen Kurzfilme schaffte. „Avant les rues“ ist ihr erster Langfilm.

Vor zehn Jahren kam Leriche erstmals mit den Ureinwohnern Kanadas in Berührung. Sie arbeitete für ein Projekt, das Jugendliche in den Reservaten ermutigen sollte, selber Filme zu machen. Vor der Kamera erzählte ein junger Mann, wie viele seiner Freunde und Verwandten sich schon das Leben genommen hatten. „Es war furchtbar. Danach drängte sich mir die Geschichte zu ,Avant les rues’ förmlich auf“, erzählt Leriche.

Es schmerzt sie, über die Zustände in den Indianerreservaten zu sprechen. „Ich war geschockt von der Armut.“ Es gebe zu wenig finanzielle Unterstützung, zu wenig Schulen, manchmal nicht einmal fließend Wasser. Bis in die neunziger Jahre hinein seien junge Ureinwohner von ihren Familien getrennt und in Internate gebracht worden, in denen sie ihre Sprache nicht sprechen und die Traditionen ihrer Ahnen nicht fortführen durften. Die Folge: Alkoholismus und Suizidversuche.

Schmerz, Verunsicherung und der Glaube an die Tradition

Wie hilft man einem Teenager, der sich umbringen will? Chloé Leriche versucht sich mit „Avant les rues“ an einer Antwort. Für sie sind es die Wälder, die den jungen Ureinwohnern Heilung bringen, das Wissen um die Traditionen. Es gibt eine starke Szene, in der Shawnouk mitten im Wald einen Baum fällt, um seine Wut loszuwerden. Danach gefragt, sagt Jacques Newashish, der das Gespräch bisher meist schweigend verfolgt hat, auf Französisch: „Du kannst dem Baum alles geben. Er hört nur zu. Für uns sind die Wälder und unser Territorium das Allerwichtigste.“

Schmerz, Verunsicherung, aber auch der Glaube an die Traditionen – all das brachten Leriches Laienschauspieler mit. „Die Rolle fühlte sich ganz natürlich an. Kwena zu spielen, war wie ein Lied zu singen“, sagt Kwena Bellemare Boivin, die auch im wahren Leben Rykko Bellemares Schwester ist. Beide sind Musiker, die die Gesänge und Melodien ihrer Vorfahren weitertragen. „Sie müssten die beiden mal im Wald beobachten“, sagt Leriche fast andächtig.

Am Ende kommt die Regisseurin nochmals auf die Eingangsfrage zurück: Wie viel Chloé Leriche steckt in ihrem Film? „Diese Widerstandskraft, die ich in den Teenagern im Reservat gesehen habe, die habe ich auch in mir selbst gespürt, als ich jung war.“ Sie identifiziert sich mit Shawnouk, mit seiner jugendlichen Rebellion. Und weil sie die Frage nach Leben und Tod schon seit ihrer Kindheit beschäftigt, ist auch die Suizidfrage für sie eine sehr persönliche Angelegenheit.

20.2., 15.30 Uhr (Zoo Palast 1)

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