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Kultur: Aztekischer Mythos, spanische Rationalität: Ein politischer Dichter sucht die Synthese

Zum Tode des mexikanischen Literaturnobelpreisträgers Octavio Paz Kritik heißt sein SchlüsselwortVON WOLF SCHELLERSeine Freunde nannten ihn den "Mandarin", und sein Landsmann Carlos Fuentes schrieb einmal in einer kleinen Erzählung: "Das gibt es bei vielen mexikanischen Gesichtern: Die Brandmale und Wechselfälle der offenbaren Geschichte verbergen sie und zeigen dafür das Urgesicht, das aus der Tundra kam und von den mongolischen Bergen." Am Sonntag abend (Ortszeit) ist Octavio Paz in Mexiko City 84jährig gestorben, vom Staatspräsidenten Ernesto Zedillo in einem Nachruf als größter Dichter und Denker seines Landes gewürdigt.

Zum Tode des mexikanischen Literaturnobelpreisträgers Octavio Paz Kritik heißt sein SchlüsselwortVON WOLF SCHELLERSeine Freunde nannten ihn den "Mandarin", und sein Landsmann Carlos Fuentes schrieb einmal in einer kleinen Erzählung: "Das gibt es bei vielen mexikanischen Gesichtern: Die Brandmale und Wechselfälle der offenbaren Geschichte verbergen sie und zeigen dafür das Urgesicht, das aus der Tundra kam und von den mongolischen Bergen." Am Sonntag abend (Ortszeit) ist Octavio Paz in Mexiko City 84jährig gestorben, vom Staatspräsidenten Ernesto Zedillo in einem Nachruf als größter Dichter und Denker seines Landes gewürdigt.Der Lyriker und Essayist hatte im Alter jenen Zug der Melancholie im Gesicht, der die geschichtsphilosophische Erfahrung dieses Jahrhunderts charakterisiert - aber auch die Widersprüche der eigenen Entwicklung. Octavio Paz war nicht erst im Alter mißtrauisch gegen die großen Worte der Ideologien geworden.Er hatte sich schon früh nach dem Krieg gegen allzu lapidare Schuldzuweisungen verwahrt.Seine politische Lebensgeschichte war dann von dem poetischen Werk nicht mehr zu trennen.Seine Landsleute rief er in seiner frühen Essaysammlung "Das Labyrinth der Einsamkeit" (1950) dazu auf, sich ihrer Identität als Mexikaner bewußt zu werden.Er begriff dieses Mexikanische als eine Synthese aus aztekischem Mythos und spanischer Rationalität.Gleichwohl verrannte er sich nicht in einen vordergründigen Nationalismus.Zum Synonym wurde das Bild von der "Einsamkeit des schweigenden Mexikaners".Oft sprach Octavio Paz von einer zu schaffenden "Poesie der Konvergenz", "einer Poesie, in der alle Traditionen konvergieren, zusammenlaufen ..." Das war sein Blick auf die Moderne, auf die Weltkultur, der er sich als Kosmopolit verpflichtet wußte. Seine frühesten Erfahrungen waren bereits durch politische Gegensätze bestimmt.Geboren am 31.März 1914 in der Nähe von Mexico City, war er in seiner Jugend mit dem legendären Bauernführer Zapata befreundet.Damals als 17jähriger gründete er mit ein paar Freunden seine erste Zeitschrift.Er hatte seine Studien unterbrochen, um in Yukátán eine Schule für Arbeiter- und Bauernkinder ins Leben zu rufen.Dann kam der Spanische Bürgerkrieg, und zunehmend wurde sich Octavio Paz der beschränkten Möglichkeiten gesellschaftlicher Veränderungen auch in Mexiko selbst bewußt."Reform, Freiheit, Gerechtigkeit und Gesetz" - das war noch die Forderung der Revolutionäre aus der Zeit des siebenjährigen Kampfes gegen die Diktatur von Diáz gewesen.Jetzt sah der junge Mexikaner die Zeichen der Zeit vor allem unter marxistischen Gesichtspunkten.Octavio Paz erinnerte sich später: "Zum einen war die mexikanische Unabhängigkeit ständig vom nordamerikanischen Imperialismus gefährdet; zum anderen erstarrte sie bald in der Bürokratie - wie die Russische und wie später die Cubanische Revolution." Die Landschaft der Campesinos in Yucátán läßt er bald hinter sich und geht nach Spanien.Hier vertritt er Mexiko auf dem II.Kongreß antifaschistischer Schriftsteller zur Verteidigung der Kultur.Und er kämpft auf republikanischer Seite gegen die Truppen Francos.Doch seinen Glauben an die Ideale des Marxismus verliert er rasch.Der Hitler-Stalin-Pakt öffnet ihm endgültig die Augen, und der Bruch mit den Freunden von einst, mit Pablo Neruda, Rafael Alberti oder André Breton, ist nicht mehr zu kitten.Es waren Freundschaften, geschlossen im Zeichen der Revolution.Sie hielten nicht stand in einem Klima sich gegenseitig hochschaukelnder Totalitarismen.Octavio Paz geriet aber nun - ähnlich wie Albert Camus in Frankreich - in offene Frontstellung zu einem großen Teil der spanisch-amerikanischen Intellektuellen.Und daheim in seiner mexikanischen Umgebung fühlte er sich in späteren Jahren immer noch eingekeilt zwischen einer stets allein regierenden Staatspartei und einem doktrinären, schulmäßigen Marxismus. Er begriff sich als Außenseiter, als "poetischer Freischärler", wie es in "Labyrinth der Einsamkeit" heißt.Regime und Ideologie - so erkannte er - lasteten zweifach auf der mexikanischen Intelligenz.Das herrschende System als institutionalisierte und bürokratisierte Revolution - das Ergebnis ist Erstarrung, Konformismus. George Orwell wurde zunächst sein großes Vorbild, später kamen Ignazio Silone und Bertrand Russell hinzu.Paz machte sich vor allem mit der angelsächsischen Literatur vertraut.Er las die Lyriker Eliot, Pound, Cummings, Yeats, Blake.Doch immer wieder kehrte er zu den großen Problemen Mexikos zurück.Leidenschaftlich verteidigte er die für die iberische Welt so charakteristische Tradition, das Recht der Kultur vor das von Ökonomie und Politik zu setzen.Kritik hieß sein Schlüsselwort, Kritik als Forderung an die Essayistik - so in seinem über 700 Seiten starken Porträt-Essay der mexikanischen Nonne und Barockdichterin Sor Juana Ine¿s de la Cruz.Geschichte und Poesie gehen in diesem Werk einer historisch und soziologisch grundierten Psychobiographie ineinander über.Die Aufklärung, so meinte Octavio Paz, habe Lateinamerika nicht erreicht.So sei es die Aufgabe des Schriftstellers, Lateinamerika mit Hilfe einer philosophischen und moralischen Kritik in die Moderne zu führen."Als Mexikaner bin ich eine exzentrische Projektion der hispanischen Kultur auf Amerika ..." Für Octavio Paz war der Existentialismus nicht das bestimmende geistige Ereignis der Nachkriegszeit."Als ich nach dem Krieg nach Frankreich kam, staunte ich über Sartre und seinen Kreis, die all das dachten, was mir schon von Heidegger und Ortega Y Gasset bekannt war." Als dann Anfang der fünfziger Jahre der Kalte Krieg die gesamte Politik zu dominieren begann, veröffentlichte Paz die ersten Dokumente über den Gulag Stalins. Paz - ein politischer Dichter - hat sich in seinem Leben auch Gegner und Feinde gemacht.Zerbrochen blieb bis zum Ende die Beziehung zu seinem Schriftstellerkollegen Carlos Fuentes, deutlich sichtbar für jedermann, als Fuentes beim Aufstand der Indianer von Chiappas Partei für die Revolution ergriff, während Octavio Paz für Ausgleich, Mäßigung und Dialog plädierte.Daß er 1968 seinen Botschafterposten in Japan niederlegte - aus Protest gegen das Vorgehen der mexikanischen Regierung, die vor den Olympischen Spielen in der Hauptstadt auf dem Platz der Drei Kulturen demonstrierende Studenten niederschießen ließ -, daran wurde nur sporadisch erinnert. 1990 erhielt Octavio Paz den Literaturnobelpreis, sechs Jahre zuvor war er in der Frankfurter Paulskirche mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt worden.Seinem Land hat dieser gelehrte Mystiker als Botschafter in verschiedenen Ländern gedient.Mehr noch: in Mexiko gewann seine Stimme das Gewicht höchster moralisch-politischer Autorität.In seinem Essay "Dichtung an der Jahrhundertwende" hieß es: "Die moderne Dichtung hat die Moderne der Kritik unterzogen und tut dies auch heute noch, eben weil sie modern ist ..."

WOLF SCHELLER

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