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Kultur: Bagdad liegt in Agonie

Ein Treffen von Exil-Irakern in Berlin

„Bei meiner Rückkehr von einer langen Reise“, notierte der in Berlin lebende irakische Schriftsteller Al-Azzawi, „fand ich mich in einem Bahnhofskino wieder. Schon vor meiner Ankunft hatte er angefangen, ein Film, der nie endet, bei dem es gleichgültig ist, von wo ab man ihn sieht, weil alle seine Szenen sich wiederholen, wie im wirklichen Leben.“ Das lässt sich als Beschreibung des irakischen Alltags lesen: die immergleichen Szenen, ohne dass ein Ende absehbar wäre. Diesem Gefühl des Immergleichen konnte sich auch kein Besucher der Ausstellung „Contemporary Arab Representations. The Iraqi Equation“ entziehen, eines Langzeitprojekts der ehemaligen Documenta-Kuratorin Catherine David, das in den Berliner Kunst-Werken zu sehen war. In welche Verwahrlosung Kultur geraten kann, referierte der irakische Kulturgeschichtler Hashim Al-Tawil auf der Abschlusstagung in einem Vortrag über „Kunst in Zeiten des Krieges“.

Bagdad liegt in einer kulturellen Agonie, die mit Saddam Hussein begann und nach der zweiten US-Invasion auf einem Tiefpunkt angelangt ist, so Al-Tawil. Es geht dabei weniger um die Ausplünderung der Museen und den Diebstahl altbabylonischer und späthellenistischer Kulturgüter, sondern um die Vernichtung jener kulturellen Infrastruktur, die sich in den zensurfreien Episoden der neueren Geschichte entwickelte.

Nur oberflächlich hat das Auf und Ab mit der Gegenwart zu tun. Als der Irak in den 1950er Jahren noch ein Königreich war, gab es unter der strengen Zensur von Ministerpräsident Nuri As-Said einen ersten Emigrationsschub von Künstlern und Schriftstellern. Schon damals verließen bekannte Namen das Land, darunter der wohl bedeutendste Dichter des jüngeren Irak, Badr Schakr as Sayyed, oder auch Johari (Abu Firat). Beide kehrten in der Tauwetterperiode der sechziger Jahre zurück, veröffentlichten Gedichtsammlungen, um nach der Machtübernahme durch das Baath-Regime das Land endgültig zu verlassen. Schriftsteller aller im Irak vertretenen Ethnien und Religionen wählten denselben Weg. Auch der Dichter jüdischen Glaubens Samir an-Nakache, der 2004 verstarb, wählte London zur zweiten Heimat, um dort die Zeitschrift „Banipal“ zu gründen.

Bewegend war in Berlin das Wiedersehen der alten (und jüngeren) Männer des Exils, die sich ihre Jugenderinnerungen erzählten und von der erhofften Rückkehr in das Land am Euphrat sprachen. Dass es dazu kommt, ist unwahrscheinlich, denn alle Aufhebung der Zensur hilft nicht, wenn nicht ein Minimum an Sicherheit für einen regulären Kulturbetrieb garantiert ist. Dazu kommt die Rivalität zwischen der Diaspora-Elite und den im Land verbliebenen Kollegen. Schließlich hat die irakische Kulturpolitik in der breiten Bevölkerung jeden Kredit verspielt, so dass auch künftig Kultur kein Gegengewicht zum blutigen Alltagschaos wird bilden können.

Jacques Naoum

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