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Ballhaus Naunynstraße: Beckett im Nahen Osten

Das „Voicing Resistance“-Festival im Ballhaus Naunynstraße spürt dem arabischen Frühling nach und lässt Künstler aus Marrakesch, Jenin, Ramallah oder Beirut zu Wort kommen.

Breaking News: Das Militär hat erneut Randalierer festgenommen. Molotowcocktails sind bei den Störenfrieden gefunden worden, außerdem Hieb- und Stichwaffen sowie Gaskartuschen. Dabei sehnen sich die anständigen Bürger nach Sicherheit und geordnet fließendem Verkehr. Der Tahrirplatz soll schöner werden. „Ägypten braucht die Polizei“, verkündet ein Autofahrer in die Kamera. Propaganda hat viele Gesichter, und die meisten sehen sehr gewöhnlich aus. „Armee und Volk gehören zusammen“, den Ruf konnte man während der Demonstrationen und Sitzstreiks hören, die brutal aufgelöst wurden. Noch so eine Losung, die in ihrer Verdrehung der Realität spottet.

„No Time For Art“ hat die junge Künstlerin Laila Soliman ihren dreiteiligen Zyklus über Polizei- und Militärgewalt im Ägypten der Gegenwart genannt, mit dem sie in die medial mitkonstruierte Lügenwelt interveniert. Arabischer Frühling, das ist ein Schlagwort, das schließlich auch in die falschen Hände geraten kann. Im ersten Teil der dokumentarischen Theaterreihe schließt Soliman zwei Schicksale kurz, basierend auf Zeugenaussagen. Das des ägyptischen Schauspielers Aly Sobhy, der im März 2011 verhaftet, gefoltert und als vorgeblich bewaffneter Missetäter vor die Kamera gezerrt wurde. Und das von Sherif Hegazy, der bereits 2007 vor Gericht gestellt und wegen eines Drogendelikts zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, das er nie begangen hat.

Die Performer Ahmed El Gendy und Sherin Hegazy – die Schwester des Inhaftierten – erzählen auf der Bühne deren Geschichten. Sachlich, dringlich, ohne falschen Aufwand, nur eine Wand für Projektionen und Übertitel im Rücken. „No Time For Art“, das ist wörtlich gemeint. Hier steht nicht die Kunst im Vordergrund, sondern der Kommentar zur Krise der Wahrheit.

„Voicing Resistance“ heißt das Festival am Ballhaus Naunynstraße, das nicht nur dem arabischen Frühling nachspürt, sondern Künstler aus Marrakesch, Jenin, Ramallah oder Beirut mit widerständigen Positionen zu Wort kommen lässt.

Absolventen des Freedom Theatres in Jenin – dessen Leiter Nabil Al-Raee Anfang Juni von der israelischen Armee verhaftet wurde – zeigen die von Beckett inspirierte Polit-Harlekinade „While Waiting“. Die libanesische Zoukak Theatre Company nimmt in „Silk Thread“ Genderfragen in den Blick. Und die Reihe „Diary“ bietet verschiedenen Künstlern eine Plattform für viertelstündige Kurzperformances. Dem Palästinenser Wafi Jourani zum Beispiel, der ursprünglich Filmemacher war, dann aber zur Bildenden Kunst umgeschwenkt ist: „Weil es drei Dimensionen braucht, um den Nahen Osten zu verstehen“, wie er sagt.

Jourani hat eine Plastik nach Berlin mitgebracht, ein giraffenähnliches Drahtwesen, das über die Grenz-Mauer nach Israel schaut. Im Gedicht „Darwin war Palästinenser“ sinniert der Künstler über die langen Hälse, die seinen Landsleuten evolutionsbedingt wachsen werden – und die Arroganz, die damit einhergehen wird, von oben herabzuschauen. Plakativ, natürlich. Aber eben auch direkt und ironisch. Man muss differenzieren. Jeder Konfliktraum steht hierzulande unter Relevanzverdacht, der Tahrirplatz ist längst nicht mehr nur Revolutionsschauplatz, sondern auch Mekka für Stadttheaterdramaturgen. „Voicing Resistance“-Kuratorin Irina Szodruch hat gut daran getan, nicht die rebellische Pose zu betonen, mit der man sich leihweise schmücken könnte.

Die „No Time for Art“-Reihe etwa zwingt bei aller Wut zum genauen Hinhören. Im dritten Teil werden abermals zwei Lebensläufe parallel erzählt. Wieder geht es um den unschuldig inhaftierten Sherif Hegazy, dessen bewegende Briefe die Schwester vorträgt. Dazu erzählt Schauspieler Ahmed El Gendy aus der Zeit seines Militärdienstes. Fast nichts bekam er von den Ereignissen in Ägypten mit, die Nachricht vom Rücktritt Husni Mubaraks hörte er im Radio. Die Erzählungen verdichten sich zu einer hintergründigen Reflexion über Formen der Unfreiheit, auch der Ohnmacht.

Abdel Fattah Ahmed Gamal war Lehrer, er ist in einem Krankenhaus in Kairo gestorben. Ein Gummigeschoss traf ihn am 28. Januar 2011, dem schwarzen Freitag. Jeder Zuschauer hat einen Zettel in der Hand, darauf der Name eines Getöteten, der laut verlesen wird. Gratismut oder notwendiges Gedenken? Manche im Publikum, die von den Ereignissen unmittelbarer betroffen sind, brechen in Tränen aus. Man selbst muss den Zwiespalt aushalten und sich die Frage stellen: Was hat das mit mir zu tun?

Bis 20. Juni. Weitere Informationen unter: www.ballhausnaunynstrasse.de

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