zum Hauptinhalt

Barenboim und Netrebko: Selige Sehnsucht

Anna Netrebko und Daniel Barenboim huldigen in der Philharmonie der russischen Ballade. Die Lieder scheinen der Ausnahme-Sängerin auf die Stimmbänder komponiert zu sein. Hat man sie je so schön singen gehört?

„Sieh her: Der Gott bin ich der Träume und der Fantasien, der heimliche Freund schüchterner Maiden.“ In Apollon Majkows Gedicht „Sommernacht“ erscheint ein wundersamer Gast am Bett der liebeshungrigen Jungfrau – und, oh Schreck, als sie morgens erwacht, hat sich tatsächlich ihr Zopf gelöst. In den Balladen des Komponisten Nikolai Rimsky-Korsakow steht bereits das offene Haar für höchste Erregung. Es sind unschuldige Kunstlieder, melodische Medaillons der Melancholie, sehnsuchtsvolle Serenaden, die Anna Netrebko bei ihrem Liederabend in der Philharmonie vorträgt. Verglichen mit den Zyklen von Schubert und Schumann mutet das, was die romantischen Tonsetzer aus dem Zarenreich unter dem Gattungsbegriff „Ballade“ komponiert haben, reichlich naiv an. Da geht es nicht um Leben und Tod, da wohnen dem lyrischen Ich keine zwei Seelen in der Brust – da klopft nur ein Herz voll unerfüllter Liebe.

Doch wenn Anna Netrebko Einblicke in die Gefühlswelten unterm schwellenden Teenagerbusen gewährt, lässt man sich nur allzu gern verzaubern, verweilt selig im Schatten junger Mädchenblüte. Denn diese Balladen scheinen der Russin auf die Stimmbänder komponiert zu sein. Hat man sie überhaupt je so schön, technisch so makellos singen gehört wie an diesem Abend in der restlos ausverkauften Philharmonie? Die aus aller Herren Länder zusammengeströmten Fans lauschen atemlos ihrem blühenden Sopran, den sanft geschwungenen Melodiebögen. Zart wie Pfirsichhaut scheinen die russischen Verse, guttural und weich verströmt sich der Klang, glutvoll, gefährlich gefühlig, doch ohne je ins Sentimentale zu kippen.

Das weiße, frühlingshaft leichte Kleid, in dem Anna Netrebko Rimsky-Korsakows Mädchen-Träumereien interpretiert, tauscht sie nach der Pause gegen eine steife Robe, türkisfarben, mit Strassbesatz, die perfekt zu den Tschaikowsky- Balladen des zweiten Teils passt. Weil diese Stücke viel erwachsener sind, dramatischer und verzweifelter, weil hier die Herzensbildung bereits zu emotionalen Verletzungen geführt hat: Monologe einer zur Vernunftehe gezwungenen Frau, die ihre erste, entsetzlich verlaufene Affäre hinter sich hat.

Soll man enttäuscht sein, wenn Frau Netrebko behauptet, dass sie sich bei der Wahl ihrer Konzertkleidung solche Gedanken nicht mache? Womöglich war da nicht der Intellekt Vater des Gedanken, wohl aber die Intuition. In der Philharmonie jedenfalls scheinen am Montag Optik und Interpretationsansatz perfekt aufeinander abgestimmt. Genau wie Anna und Daniel Barenboim, wenn sie ihr bereits im vergangenen Sommer in Salzburg bejubeltes Programm wiederholen – und dabei noch besser, noch betörender musizieren als auf dem soeben veröffentlichten CD-Mitschnitt. Als Piano-Partner ist Barenboim eben viel mehr als nur ein aufmerksamer Begleiter, der seine Diva auf Händen trägt: Er bleibt auch vor der Tastatur immer ein Dirigent, der die Klavierstimme orchestral denkt, mit Klangfarbenraffinement Stimmungen evoziert, Mini-Dramen erzählt. „Ich war doch wie das Gras am Feld/Jung und zart gewachsen/Wurde einfach abgemäht/Und getrocknet in der Sonne./Ach, so ein Kummer, so ein Leid.“ Frederik Hanssen

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false