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Im Niemandsland. Szene aus Dominic Friedels Inszenierung. Foto: Thomas Aurin

© Thomas Aurin

Kultur: Bastelwut

Hämmern und chiffrieren: „Ernte“ im Gorki Studio

Irgendwo an einer Bushaltestelle zwischen Warschau und Krakau beginnt die Geschichte. Dann setzt sie sich in Deutschland fort. Setzt sie sich fort? Ist es überhaupt eine Geschichte? Es könnte sich in dem Theatertext „Ernte“ von Claudia Grehn (mit Beifügungen von Lena Müller) um das Grübeln über die Erlebnisse einer zwischen Polen und Deutschland herumwandernden vaterlosen Familie handeln. Mutter, Söhne, Frauen suchen einen Grund für ihre physische – und auch für ihre metaphysische Existenz. Liebe und Eifersucht, Geburt und Tod, Treue und Verrat, das ist alles drin. Aber nichts findet zusammen. Was geschieht, spielt sich in den Köpfen der Figuren ab. Und die werden nicht kenntlich. Sie wollen einen Sinn finden für das, was sie tun oder eben nicht tun. Sie streiten über Lebensentwürfe und blenden das reale Dasein aus. Niemand bringt etwas zustande. Alle irren in einem selbst ausgedachten Niemandsland herum, ob sie Polen oder Deutsche sind, ob sie Arbeit haben oder einfach in den Tag hineinträumen.

Claudia Grehn, Gewinnerin des Theatertreffen-Stückemarktes 2010, überlässt es dem Zuschauer, was er mit den eigenwilligen Denkangeboten macht. Dechiffrieren ist angesagt. Aus diesem Grund wohl zieht Regisseur Dominic Friedel im Gorki Studio alle Register. Mitunter wähnt man sich im Baumarkt (Bühne Natascha von Steiger) – in besessener Bastelwut wird Holz verschraubt und auseinandergeklopft, flüchtige Räume entstehen in einem Wechselspiel von Aufbau und Zerstörung. Campingtische dienen als Wurfgeschosse, drahtumgitterte Käfige als Wohncontainer. Viel Krach, viel Wut, viel sinnleere Leidenschaft, manchmal dann auch Stille und Konzentration. Den Schauspielern ist zu danken, dass die knapp zwei Stunden überhaupt durchzuhalten sind. In beeindruckender Weise schalten sie um vom hitzigen Radau oder vom nüchternen Bericht zu einer Schlichtheit und unverstellten Naivität, die verdeutlichen, wie richtungsloses Existieren durch heitere Zuversicht doch noch erträglich gemacht werden kann. Christoph Funke

Wieder am 3. und 23. Januar

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