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Sieg Mandaag 1945 in Bergen-Belsen.

© George Rodger/The LIFE Picture Collection/Getty Images

Befreiung von Bergen-Belsen: „Ich bin am Leben“

Deutschland zwischen Kriegsende und Neuanfang: Werner Sollors hat ein sehr persönliches und verstörendes Buch über die Jahre nach der Befreiung geschrieben. Eine Rezension

Ein kleiner, einsamer Junge wandert einen Feldweg hinunter. Auf dünnen Beinen in kurzen Hosen kommt er uns entgegen. Er blinzelt nach rechts, denn links von ihm liegen verstörend viele Leichen. Es sind die Toten von Bergen-Belsen. Es gibt einige ikonische Fotos vom Unheil und Ende des Krieges, dieses wurde am 20. April 1945 aufgenommen, fünf Tage nach der Befreiung des Lagers. Der britische Kriegsfotograf George Rodger hat es gemacht. Der Tag, an dem Rodger dem Kind begegnete, war der Tag, an dem er die Kriegsfotografie für immer aufgab. Nie wieder wollte er menschliches Leid abbilden, das mal eben betrachtet und dann umgeblättert wird.

Sohn eines Diamantenschleifers

Das Bild landete am 7. Mai 1945 in der Befreiungsausgabe von „Life“ mit der Fotozeile: „Ein kleiner Junge schlendert eine Straße herunter, die mit Leichen gesäumt ist, in der Nähe des Lagers Belsen.“ Das Bild des Jungen entwickelte fortan ein Eigenleben. Die einen fragten sich, warum der Junge so gut angezogen sei, warum er überhaupt allein zwischen den Leichen herumwandern durfte, andere interpretierten seinen abgewandten Blick. Tony Judt zeigte in seiner „Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart“ (2006) auch dieses Foto und konzentrierte sich ganz auf den abgewandten Blick des Kindes. Judt sah darin das typische Wegschauen erwachsener Deutscher. Werner Sollors notiert in „The Temptation of Despair“, dass für Judt das Kind nicht ein „armer, unschuldiger, junger Zuschauer ist, der in der höllischen Welt der Erwachsenen herumgeistert, sondern … eine Person, die zutiefst verwickelt ist in die Hölle, die ihn umgibt“.

Erst 1995 bekam das abgebildete Kind einen Namen und wurde erlöst von der Symbolik des Wegschauens. Es war kein deutscher Zuschauer, sondern ein überlebendes jüdisches Kind. Sein Name war Sieg Mandaag, Sohn eines Amsterdamer Diamantenschleifers, der 1943 von der Gestapo verhaftet und mit einer ganzen Reihe anderer Diamantenschleifer nach Bergen-Belsen verfrachtet worden war. Die Nazis hatten den wahnsinnigen Plan, im Lager eine Diamantenindustrie aufzubauen. Der Vater starb dort, die Mutter wurde in ein anderes KZ verlegt und der kleine Sieg blieb mit 53 anderen, sogenannten Diamanten-Kindern im Lager – verwaist und täglich den Abtransport nach Auschwitz fürchtend. Als George Rodger mit der britischen 11. Panzerdivision in Bergen-Belsen eintraf, lebten diese holländischen Kinder zwischen tausenden Leichen und Sterbenden.

Der Betrachter sieht das Kind mit einem anderen Blick, wenn er weiß, dass es ein Überlebender ist. Der abgewandte Blick ist Schutz. „Wie mythologische Helden, die heil aus der Unterwelt gekommen waren … durfte er sich nicht umschauen“, schreibt Sollors. Seine ordentlichen Kleider und die Lederschuhe hatte der Siebenjährige aus einem Lagerraum, in dem die persönlichen Sachen der Gestorbenen aufgehoben wurden.

Werner Sollors: The Temptation of Despair. Tales of the 1940s. Belknap Press, Cambridge 2014. 390 Seiten, 35 Dollar.
Werner Sollors: The Temptation of Despair. Tales of the 1940s. Belknap Press, Cambridge 2014. 390 Seiten, 35 Dollar.

© HUP

Sieg Mandaag wurde mit seiner Schwester nach Holland zurückgebracht und lebte bei fernen Verwandten, die die Not der beiden Lagerkinder kaum verstanden. Es wurde Tuberkulose diagnostiziert und nach einigen Krankenhausaufenthalten wurde er mit seiner überlebenden Mutter vereint. Er war fortan schlecht in der Schule, brauchte psychologische Hilfe, fand nicht den richtigen Beruf, war rastlos und reiste in die Welt. Er heiratete schließlich, wurde Maler und hatte eine Familie. Aber keinen Tag seines Lebens konnte er vergessen, was sie ihm angetan hatten. „Ich bin am Leben“, antwortete er seinen Kindern, wenn sie ihn nach dem Krieg fragten. 1981 begegneten sich Rodger, der zu den Begründern der Fotoagentur Magnum gehörte, und das Kind aus dem Lager noch einmal. Sieg Mandaag starb 2013.

Eine Gesellschaft zwischen „nicht mehr und noch nicht“

Die Geschichte des kleinen KZ-Jungen und seines Fotografen ist nur eine von vielen unterschiedlichen, traurigen und dunklen Geschichten aus den 40er Jahren, die Sollors erzählt. Geschichten von Rache, dem Dilemma der Entnazifizierung und Arroganz am Beispiel des Nazi-Apologeten Carl Schmitt, von Vergewaltigung, Melancholie und sogar Hoffnung. Anhand von Fotos, Filmen wie Billy Wilders „Eine auswärtige Affäre“ (1948), Aufzeichnungen, Zeitungsartikeln und Büchern, wie „The Wine of Astonishment“ von Martha Gellhorn, der Kriegsreporterin und Frau von Ernest Hemingway, entfaltet Sollors das Bild einer Gesellschaft zwischen „no longer and not yet“ – „nicht mehr und noch nicht“.

„The Temptation of Despair“ zeigt uns Deutschland am Boden und Menschen am Rande der Verzweiflung. Doch fast jede Geschichte spricht auch davon, wie die Menschen der Versuchung zur Verzweiflung widerstanden haben. Werner Sollors, ein gebürtiger Schlesier, wurde von seiner Mutter auf der Flucht aus dem Osten im Kinderwagen bis nach Thüringen geschoben. Seine Großmutter fiel aus einem Zug und starb, seine Schwester wurde krank und starb auch. Und doch hat die Mutter weitergemacht, jede zweite Nacht irgendwo auf Stroh geschlafen, immer vorwärts. Ihrem Andenken hat er dieses Buch gewidmet. Der junge Werner wuchs in Frankfurt auf und in seiner Kindheit waren es die schwarzen GIs, die ihn mit Jazz und Lässigkeit gegen die Verzweiflung wappneten. Sollors ist heute Professor in Harvard. Er spürt dem frühen Einfluss schwarzer Soldaten nach, die nicht nur Kaugummi und Schokolade verteilten, sondern den Lebensweg eines deutschen Jungen aus der deutschen Universität nach Amerika bestimmten, wo er sein Interesse für die schwarze Kultur vertiefte bis hin zur Cabot-Professur für Englisch und Afroamerikanische Studien.

Werner Sollors hat ein sehr persönliches und verstörendes Buch über die Jahre nach der Befreiung geschrieben, ein wundersames Denkmal für die zivilen Überlebenden und ihre erstaunliche Widerstandskraft.

– Werner Sollors: The Temptation of Despair. Tales of the 1940s. Belknap Press, Cambridge 2014. 390 Seiten, 35 Dollar.

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