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Kultur: Begegnung der besonderen Art

Ein

von Peter von Becker

Neulich, bei einer Matinee des Berliner Theatertreffens, traf ich den Regisseur Volker Schlöndorff im Jogginganzug. Schlöndorff ist 68, also ein echter Achtundsechziger, und soeben war er 25 Kilometer gelaufen. Mehr als einen Berliner Halbmarathon. Und der Mann schwitzte nicht und keuchte nicht, er lachte nur. Ein Wunder. Um Schlöndorff noch ein weiteres Kompliment zu machen, sagte ich, ich hätte gerade seinen Film „Der neunte Tag“ gesehen. Leider nur im Fernsehen, bei Arte hatte ich ihn aufgenommen auf meinem neuen DVD- Recorder und ihn eben jetzt angeschaut. Auch das ein Wunder, ich meine: der Film und die großartigen Schauspieler. Eigentlich hatte ich zwischendrin nämlich wegzappen wollen. Oder den Schnelldurchlauf starten. Bin aber dabeigeblieben, trotz der nervenden Erzählstimme.

Der Film handelt ja von einem Priester im KZ Dachau. Und über die grausamen KZ-Bilder legt sich eine Frauenstimme, die das Geschehen vor und zwischen den Dialogen schildert. „Der Häftling dreht den Kopf, greift nach einem Rest Brot und wendet sich an den Priester ...“ Ungefähr so, andauernd, gleichsam die gesprochenen Regieanweisungen. Also ein typisch Brecht’scher Verfremdungseffekt, episches Filmtheater: um jedes melodramatische Als-ob, wenn es um nachgestellte Bilder aus einem KZ geht, zu brechen.

„Ich verstehe schon“, sage ich zu Schlöndorff, „dass Sie da eine zweite Ebene wollten ...“ – „Eine zweite Ebene?“, fragt der Regisseur und Marathonmann. „Ja, und die hat man nach spätestens zehn Minuten verstanden. Aber Herr Schlöndorff, das Wunderbare an Ihrem Film ist, dass sich die Geschichte und die Schauspieler dann immer stärker gegen diese ständig mitgesprochenen Regieanweisungen behaupten! Fabelhaft!“ Jetzt schaut der Regisseur völlig fassungslos. „Welche Regieanweisungen!?“ Es folgt eine Zehntelsekunde, die wird sehr lang zwischen zwei Menschen, die nicht mehr wissen, ob der jeweils andere oder sie beide gerade verrückt geworden sind. Dann blitzt etwas auf in Schlöndorffs Auge, und es platzt aus ihm heraus: „O Gott, Sie haben die Blindenfassung gesehen!“

Die Blindenfassung? „Das ist mir auch schon passiert, ja, bei Arte!“, ruft der lachende Schlöndorff, „da gibt’s irgendeinen Knopf beim Stereokanal, den müssen Sie ausschalten!“

Schlöndorffs „Neunter Tag“ zeigt eine Tragödie. Doch der Kritiker als Blindseher ist eine Komödie. Zudem entspricht dieses Bild der Lieblingsvorstellung vieler Regisseure. Vor allem der Theaterregisseure, die beim Theatertreffen ihre von einer Kritikerjury gewählten Aufführungen präsentieren. Ansonsten taugen Blinde, für die es wundersamerweise auch bei Gemäldeausstellungen da und dort schon Tasttafeln gibt, schlecht für Komödien. Außer im Theater, wo Beckett scherzt: Fragt ein Blinder einen Lahmen, wie geht es Ihnen? Antwortet der Lahme: Prächtig, wie Sie sehen. – Das geht, denn Schiller sagt: „Ernst ist das Leben, heiter die Kunst.“ So steht’s im Prolog zum „Wallenstein“, und wir werden’s ja sehen. Ab heute bei Peter Stein! Wobei jede Premiere im Theater, das ist das Schöne, für den Zuschauer auch ein Blind Date ist.

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