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Kultur: Beginn mit Brahms

Er habe mit Monteverdi angefangen und sich dann über Bach und Mozart chronologisch zu Beethoven, Brahms, Bruckner und kürzlich auch Alban Berg vorgearbeitet, lautet ein hartnäckiges Vorurteil, dem Nikolaus Harnoncourt immer wieder entgegentreten muß.Falsch ist das aus mehreren Gründen, denn "angefangen" hat der junge Cellist in seinen Teens im Grunde genommen mit Kammermusik von Brahms.

Er habe mit Monteverdi angefangen und sich dann über Bach und Mozart chronologisch zu Beethoven, Brahms, Bruckner und kürzlich auch Alban Berg vorgearbeitet, lautet ein hartnäckiges Vorurteil, dem Nikolaus Harnoncourt immer wieder entgegentreten muß.Falsch ist das aus mehreren Gründen, denn "angefangen" hat der junge Cellist in seinen Teens im Grunde genommen mit Kammermusik von Brahms.Seine erste und einzige Anstellung fand der 22jährige Absolvent der Konservatorien von Graz und Wien, der schon während des Studiums immer wieder im Opernorchester ausgeholfen hatte, bei den Wiener Symphonikern.Dort spielte er 17 Jahre lang zwischen 1952 und 1969 das sinfonische Standard-Repertoire."Davon zehn Jahre unterm Chef Karajan." Er verließ das Orchester nicht etwa, weil ihm das Repertoire an sich zuwider war, sondern die aalglatte Ästhetik seiner Umdeutung ins Nette und Pläsierliche.Da war der Concentus musicus, den er als Arbeitskreis in seinem ersten Orchesterjahr zur Erkundung historischer Instrumente und ihrer Spielweisen mit interessierten Kollegen ins Leben gerufen hatte, bereits über anderthalb Jahrzehnte beisammen.

Der Concentus musicus ist nichts weiter als die zweite Seele in Harnoncourts philharmonischer Brust.Bei seiner Gründung galt der junge Musiker nicht als Monteverdi-Spezialist, sondern als Mittelalter-Kenner mit besonderem Schwerpunkt auf der Musik der Habsburger um 1500.Noch heute vertritt er die Meinung, daß die abendländischen Instrumente um 1500 den "möglichen Gipfelpunkt" ihrer klanglichen Vollkommenheit erreicht hätten und daß von da an "jede Verbesserung mit einer Verschlechterung bezahlt werden" mußte.Seit 1951 hat er Schallplatten in diesem Bereich eingespielt, seit 1955 in eigener künstlerischer Verantwortung.Sie sind bei dem amerikanischen Label Vanguard erschienen und in Europa wenig bekannt.Als Telefunken (aus Telefunken und Decca wurde später Teldec) 1963 den Künstler unter Vertrag nahm und als marktstrategischen Gegenzug zur elf Jahre älteren, erstaunlich erfolgreichen Archiv-Produktion der Deutschen Grammophon zügig ein umfangreiches Orchester-Repertoire auf Originalinstrumenten mit ihm aufbaute, hatte Harnoncourt sich bereits weitgehend von der mittelalterlichen Musik gelöst."Es war für mich eine moralische Entscheidung notwendig.Ich habe mit dieser Musik Schluß gemacht, obwohl sie mich heute noch wahnsinnig interessiert, weil zu viel Unsicherheit in dem ganzen Bereich besteht." Seine beispiellose praktische Kenntnis historischer Instrumente aber hat er sich in dieser Zeit erworben.

42 Produktionen zu teilweise mehreren LPs brachte Telefunken mit seinem Exklusivkünstler schon im ersten Jahrzehnt auf den Markt.Sie übten einen unerhörten Einfluss auf die Musikwelt aus.Ein Dirigent wie Roger Norrington gibt umumwunden zu, daß Harnoncourts Aufnahme der H-Moll-Messe ihm den Weg gewiesen habe.Manche dieser Produktionen gehören bis heute zu den bestverkauften in der Reihe "Das Alte Werk".Sein Debüt als Dirigent eines Sinfonieorchesters, das an keinem geringeren Ort als an der Mailänder Scala stattfand, hat dagegen niemand aufgenommen.Kein Wunder, daß in der breiteren Öffentlichkeit das falsche Bild vom Barock- und Darmsaiten-Spezialisten aufkommen mußte.

Dabei war Harnoncourt von Anfang an klar, daß er auch das reguläre Repertoire dirigieren wollte.Von historischen Instrumenten war dabei keine Rede."Wenn mich damals jemand gefragt hätte: warum machst Du das nicht auf den alten Instrumenten, dann hätte ich gesagt: Weil wir diese Musik überhaupt nicht auf alten Instrumenten spielen können." So kam es zur Zusammenarbeit mit dem Concertgebouw Orchester in Amsterdam, mit dem er seit 1980 die mittleren und späten Sinfonien von Mozart eingespielt hat.Inzwischen können die Musiker von fast vierzig Jahren Spielerfahrung mit historischen Instrumenten profitieren.Brahms, Wagner, Bruckner sind technisch soweit zu meistern, daß öffentliche Aufführungen mit Instrumenten der Entstehungszeit gewagt werden können.Und auch der Concentus hat Mozarts späten Sinfonien und Haydns Oratorien in sein Repertoire aufgenommen.

Nikolaus Harnoncourt aber fällt die Entscheidung nicht so leicht wie für seinen Adepten.Sein philharmonisches Herz hängt nach wie vor am "gewachsenen Klang" der großen Traditionsorchester mit denen und in denen er aufgewachsen ist.Diese gewachsene individuelle Klangästhetik, in die einzugreifen er sich hütet, "wird jetzt immer weniger, aber sie ist noch einigermaßen vorhanden, und das halte ich für einen sehr hohen Wert." Niemand solle sich also wundern, daß sein künstlerischer Lebensweg ihn konsequent zu den Wiener und Berliner Philharmonikern geführt habe.Nachdem er sich seinen "Lebenswunsch", Bergs Violinkonzert zu dirigieren, im letzten Jahr erfüllt hat, wird er nun Dvorák entschlossen in Angriff nehmen, seine Beschäftigung mit Bruckner, mit Offenbach, in dem er einen Vorläufer Strawinskys verehrt, und mit dem Musiktheater der deutschen Romantik fortsetzen.Bei einem so eigenständigen Denker wie Nikolaus Harnoncourt kann man da auch ohne "Originalinstrumente" auf Entdeckungen gefasst sein.

Nikolaus Harnoncourt gastiert heute abend mit dem Concentus musicus und Sylvia McNair im Schauspielhaus, 20 Uhr

BORIS KEHRMANN

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