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Kultur: Beherzter Schritt nach vorn

Vermutlich käme kaum ein erwachsener Mensch aus freien Stücken auf die Idee, sich "Kannst Du pfeifen Johanna" anzuschauen.Und zugegeben, die ersten fünf Minuten lang würde er sich wohl auch etwas merkwürdig vorkommen, in einem Puppentheaterstück, einsam aufragend wie ein Fels aus einer Zuschauerschar sechsjähriger Dreikäsehochs.

Vermutlich käme kaum ein erwachsener Mensch aus freien Stücken auf die Idee, sich "Kannst Du pfeifen Johanna" anzuschauen.Und zugegeben, die ersten fünf Minuten lang würde er sich wohl auch etwas merkwürdig vorkommen, in einem Puppentheaterstück, einsam aufragend wie ein Fels aus einer Zuschauerschar sechsjähriger Dreikäsehochs.Doch spätestens dann hätte er das Merkwürdige seiner Situation vergessen und würde auch konzentriert nach vorn gebeugt den Gesten der beiden winzigen Gliederpuppen folgen, die da auf einem alten Schuh schaukelnd ihre Kinderprobleme diskutieren.Denn "Johanna" ist so schön und so anrührend wie Theater sein kann, obwohl oder vielleicht weil sie mit dem Notwendigsten auskommt.Ein Koffer, zwei Stühle und vier Marionetten, kaum mehr braucht es, um die Geschichte der zögerlichen Annäherung zwischen einem alten Mann und einem kleinen Jungen zu erzählen.Und zwei Puppenspieler, die immer wieder die Aufmerksamkeit von den Puppen auf sich und wieder zurücklenken, und virtuos die Erzählebenen der Geschichte wechseln, ohne den Handlungsfaden zu verlieren."Johanna", eine Produktion des Puppentheaters der Stadt Halle, ist vielleicht der überraschendste Erfolg dieses fünften Deutschen Kinder- und Jugendtheatertreffens im Podewil, das am Donnerstag zu Ende ging.Rund 6000 Zuschauer waren zu den Gastspielen gekommen.Das nächste Festival wird im Jahr 2001 stattfinden.

Eigentlich nur für die Allerkleinsten bestimmt, ist es zugleich der schlagendste Beweis dafür, wie wenig das Etikett "Kinder- und Jugendtheater" letztlich zu sagen hat.Denn die Produktionen, die bei dieser Biennale gut ankamen, fesselten Kinder und Erwachsene zugleich.Wenn auch manchmal auf ganz unterschiedliche Weise, wie "Flickan, Mamman och Soporna" (Polter, Geist und Ti) des Stockholmer Unga Klara Stadsteatren, ein Stück, in dem es um ein Kind und seine schizophrene Mutter geht.

Nicht eben ein Stoff, mit dem man Achtjährige konfrontiert."Aber die haben damit gar keine Probleme - für sie ist es einfach eine Spukgeschichte", versichern die Darsteller im anschließenden Gespräch.Wohl auch, weil Regisseurin Suzanne Osten immer wieder suggestive Bilder findet, die Besessenheit der Mutter durch zwei schwarzgekleidete Männer veranschaulicht, die ihr unsinnige Befehle erteilen, sie überwachen und ganz plötzlich aus den Wänden der kleinen Wohnung heraustreten.Schon ganz zu Anfang sind sie dabei und begleiten die Mutter bei ihrem Chanson, das sie vital ins Foyer schmettert.Daß diese launige Einstimmung in Wahrheit der erste Hinweis auf die latente Krankheit ist, merkt man erst, wenn die beiden Männer kurz darauf auf die Bühne schleichen und das dort herumstehende Puppenhaus Stockwerk für Stockwerk abdecken, um ihr Opfer zu finden."Polter, Geist und Ti" wird vermutlich bald auf den Spielplänen etlicher deutscher Jugendbühnen auftauchen, weil es in seinem Ziel, ein komplexes Problem für Kinder faßlich darzustellen, dem traditionellen didaktischen Ansatz des Kindertheaters am nächsten kommt - und weil es noch ein richtiges "Stück" ist, das sich auf der Basis des gedruckten Textes nachspielen läßt.

Die meisten Highlights unter den 13 eingeladenen Produktionen dieser Biennale werden dagegen eher indirekt durch ihre individuell entwickelten Spieltechniken richtungweisend wirken.Sowohl in "Komosha" vom Speelteater Gent, wie in der "Kleinen Hausmusik" des Kammertheaters Neubrandenburg wird fast gar nicht geredet, gibt es nicht einmal eine "Handlung" im strengeren Sinn.Beide Stücke kümmern sich nicht um pädagogische Zweckbestimmung, sondern versuchen erst einmal, für die künstlerische Ausdrucksform Theater zu begeistern.Botschaften laufen hier nur versteckt mit: "Komosha" - das einzige Stück nicht nur für, sondern auch mit Jugendlichen - ist zuerst eine vitale Tanzperformance mit Beat, Rap und Scratching-Elementen, die durch die virtuose Körpersprache der Darsteller fesselt.Daß hier bei Jugendlichen vom Startpunkt ihrer eigenen Musik aus das Bewußtsein für die Möglichkeiten tänzerischen Ausdrucks geweckt wird, drängt sich nirgends als "Anliegen" in den Vordergrund.Ebenso understated gibt sich die "Kleine Hausmusik".Im prachtvollen dreistöckigen Mietshaus-Bühnenbild laufen meist etliche Aktionen zugleich ab, fügen sich nur hin und wieder die Geräuschebenen der Mietsparteien zu übereinanderliegenden Klangschichten, effektvoll kontrastiert mit gemeinsam gesungenen Volksliedern.

Wie weit sich Jugendtheater mittlerweile vorwagt, zeigt am eindrucksvollsten die dekonstruierte Version von "Dantons Tod", eine Koproduktion des Berliner Theaters unterm Dach mit dem Theater des Lachens aus Frankfurt/Oder.Kühn springen die drei clownesken Schauspieler zwischen Büchnerschen Dialogfetzen und fistelnder Lautsprache hin- und her, so daß jeder Deutschlehrer, der das Stück zuvor mit seiner Klasse durchgenommen hat, in bittere Erklärungsnot geriete.Da scheint es fast, als könnte unter dem Schutzetikett "Jugendtheater" auch ein freierer, avantgardistischerer Zugriff auf Theater möglich sein als an einer abonnementsbelegten Erwachsenenbühne.Und warum sollte das Theater der Zukunft nicht einmal von denen kommen, die schon jetzt für das Publikum der Zukunft spielen?

JÖRG KÖNIGSDORF

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