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Kultur: Bei Osama unterm Sofa

Kunst ohne Skandal: Morgen wird in London der Turner-Preis vergeben

Der Blick schwenkt durch die Tür, langsam hinein in den kahlen Raum – der Joystick zoomt, wie im Fadenkreuz, ein hölzernes Bettgestell heran. Hier schlief, hier lebte Osama bin Laden bis zu seiner Flucht, in dieser Festung in den Bergen Afghanistans. Sein Versteck wird zum Videospiel für die Ausstellungsbesucher der Tate Britain. Wie trivial und wie poetisch zugleich darf Kunst umgehen mit der Jagd nach dem Al-Qaida-Chef, mit der Mythologie des Bösen?

Das ist die Frage, die sich das britische Künstlerduo Langlands & Bell mit seiner interaktiven Installation „Das Haus von Osama bin Laden“ stellt. Das Duo gehört zu den vier Kandidaten für den Turner-Preis, der morgen in London verliehen wird. Schockeffekte, wie sie bisher zum Wettbewerb stets gehörten, sucht man dieses Jahr vergeblich. Aber langweilig ist die Schau trotzdem nicht, und für Kontroversen taugt sie allemal. Das Urteil der Kritik reicht von „interessant wie nie“ bis zum vernichtenden „uninteressant wie selten zuvor“.

Dabei sind die von der Jury ausgewählten Beiträge allesamt bemerkenswert politisch und demonstrieren, wie sich junge Künstler den kriegerischen Konflikten, dem Zusammenprall der Kulturen stellen. Weder Maler noch Bildhauer sind in die Endrunde gelangt, im Zentrum aller Beiträge stehen Videoarbeiten wie die des türkischstämmigen Kutlug Ataman. Außerdem ist keine Frau darunter, und richtig jung ist eigentlich auch keiner der fünf Anwärter. Ben Langlands befindet sich mit 48 Jahren knapp unter der Altersgrenze, und auch der als Favorit gehandelte Jeremy Deller ist bereits 38 Jahre alt. In die erste Reihe rücken nun jene, die bisher im Schatten der berühmt gewordenen Young British Artists standen.

Ganz offensichtlich sind die Zeiten der Selbstinszenierung vorüber, als auf Effekt und öffentliches Spektakel gesetzt wurde. Keine Aufregung mehr um mit Elefantendung gemalte Bilder, um eine mit Schimpfwörtern gespickte Preisrede von Madonna oder um ein kahles Zimmer mit Lichtschalter als Siegerarbeit. Eine neue Ernsthaftigkeit ist spürbar, auch wenn der Fernsehsender Channel Four die Preisverleihung weiterhin live überträgt und ein Gin–Hersteller jetzt die Veranstaltung sponsert.

„Meine Arbeiten sind politisch, aber sie beschäftigen sich nicht mit Politik,“ sagt Yinka Shonibare. Der in London geborene und in Nigeria aufgewachsene Künstler ist mit mehreren Arbeiten vertreten. Nichts scheint der Gegenwart ferner als sein kraftvoller Film über die Ermordung des schwedischen Königs Gustav III. auf einem Maskenball im Jahre 1792. Bei diesem beängstigenden Ballett, ohne musikalische Begleitung, sind die Geschlechterrollen vertauscht, nur das Atmen und Stampfen der Tänzer ist zu hören. Die Akteure tragen farbenprächtige Kostüme aus „afrikanischer“ Baumwolle. Für Shonibare symbolisieren diese Stoffe den Imperialismus, der alle Identitäten verwischt. Ein wenig schockierend denn doch seine Skulptur „Die Schaukel“, die einem berühmten Gemälde von Fragonard nachempfunden ist. Eine barock gekleidete, aber kopflose Frau schwingt durch den Raum.

„Memory bucket“ (Erinnerungsabfall) nennt der als Maler, Fotograf und Installationskünstler bekannt gewordene Jeremy Deller seine Videoarbeit. Es ist eine Reise in das Herz von Texas, direkt in die Umgebung der Farm von George W. Bush. Deller lässt die Menschen unkommentiert einfach reden, die Betreiber des örtlichen Restaurants etwa, in dem Mr. President ganz volksnah seinen Hamburger isst. Und Deller besucht außerdem die Ortschaft Waco, wo die amerikanische Armee 1993 mit Panzern die Farm der Davidianer-Sekte eroberte und dabei 74 Menschen starben. Ein Überlebender berichtet verbittert über unbewiesene Anschuldigungen wie etwa die Existenz eines riesigen Waffenlagers, die zum Militäreinsatz führten.

Am bekanntesten ist inzwischen ein Kunstwerk geworden, das dem Publikum vorenthalten wird. Kurz vor Ausstellungsbeginn ließ die Tate Britain ein von Langlands & Bell in Kabul gedrehtes Video entfernen, um eine Klage zu vermeiden. Der Film zeigt einen der Folter angeklagten afghanischen warlord vor Gericht. Auch in London muss sich gegenwärtig ein seit Jahren in England lebender Afghane wegen Beteiligung an Folter und Mord in Afghanistan vor Gericht verantworten – der Film könnte das Urteil beeinflussen, heißt es. So viel Politik wäre der Tate Gallery dann doch (des Guten) zu viel.

Tate Britain, London, bis 23. Dezember

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