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Kultur: Beim Sterben ist jeder der Erste

Der Regisseur John Boorman wurde 1933 in Shepperton, England geboren. Er begann seien Karriere mit Dokumentarfilmen bei der BBC.

Der Regisseur John Boorman wurde 1933 in Shepperton, England geboren. Er begann seien Karriere mit Dokumentarfilmen bei der BBC. Mitte der 60er Jahre fing er an, Spielfilme zu drehen. Zuletzt lief von ihm 1995 "Beyond Rangoon" in den Kinos. Mit John Boorman sprach Julian Hanich.Mr. Boorman, stimmt die schöne Anekdote, daß Martin Cahill Anfang der achtziger Jahre selbst einmal bei Ihnen eingebrochen ist?Nun ja, soweit ich weiß schon. Ich war zu der Zeit, als der Einbruch stattfand, nicht zu Hause. Die Polizei sagte mir aber, daß sie wisse, wer es gewesen sei, daß sie aber keine Beweise gegen Cahill hätte. Schon zu diesem Zeitpunkt, als er noch mehr ein Fassadenkletterer als der Anführer einer Bande war, verhöhnte er die Polizei, indem er sie wissen ließ, daß er die Tat begangen hat und sie herausforderte, ihn zu überführen. Er klaute mir damals die Goldene Schallplatte, die mir für die Musik von "Beim Sterben ist jeder der Erste" überreicht worden war - was ich auch im Film integriert habe. Und weil ich auf diese Weise gleichsam mit ihm bekannt geworden war, verfolgte ich seine Karriere mit einigem Interesse. Doch erst als er erschossen wurde, überlegte ich, einen Film über ihn zu drehen.Wie treu sind Sie dabei dem realen Martin Cahill geblieben?Als ich das Drehbuch schrieb, habe ich mit Leuten geredet, die ihn kannten. Und ich kannte all die Vorfälle, die wirklich stattgefunden haben; keiner ist von mir erfunden. Aber letztlich mußte ich das alles beiseite legen, um daraus ein Drama zu machen. Daher habe ich die Dialoge und den Großteil der Beziehungen erfunden und mich auf die Wahrheit der Phantasie verlassen. Merkwürdigerweise, als wir mit der Realisierung des Films schon einigermaßen vorangeschritten waren, tauchte plötzlich Cahills Schwester auf, um mit dem Hauptdarsteller Brendan Gleeson zu reden. Sie verbrachte eine Stunde mit ihm, und als er dann zu mir kam, war er sprachlos und meinte: "John, viele der Dinge, von denen du dachtest, du habest sie erfunden, sind tatsächlich wahr."Mitte der 60er Jahre haben Sie aufgehört, Dokumentarfilme zu drehen, weil Ihnen darin die Möglichkeiten zu gering erschienen, die Wahrheit auszudrücken. Was ist der Unterschied zwischen dieser fiktionalen "Wahrheit der Phantasie" und Dokumentarfilmen?Ich habe überwiegend Dokumentarfilme über Menschen gemacht. Diese Filme hatten meist eine schädliche Wirkung auf das Leben der Leute, deren Leben im Fernsehen untersucht wurde. Und so fing ich damit an, was in gewissem Sinn auch Mike Leigh macht: die reale Figuren zu studieren und dann einen Schauspieler diesen Menschen spielen zu lassen. Die fiktionale Biographie einer Person erlaubt mehr Innenansichten. Die Kraft der Phantasie ist enorm - und die Beziehung von Phantasie und Fakten in meinem Film ist faszinierend. Es fällt mir mittlerweile schwer, mich daran zu erinnern, wo das eine beginnt und das andere endet.Worin sehen Sie den Grund für Cahills Widerstand gegen alle höheren Institutionen?In seiner Kindheit wurde er von der Polizei geschlagen. Und er fühlte, das die Leute in den Elendsvierteln von der Gesellschaft abgelehnt wurden. Daher hatte er das Bedürfnis, Rache an der Gesellschaft zu nehmen. Das stand grundsätzlich hinter seinem Verhalten, aber es ging tiefer als das. Er war ein bestimmter Archetyp, den man in der Geschichte immer wieder findet: der Rebell und Gegner der Autoritäten.Ist Rebellentum eine positive Eigenschaft?Ich will dazu keine moralische Position einnehmen. Und ich will auch die Kriminalität Cahills nicht rechtfertigen. Interessant ist die Wirkung, die er auf die Gesellschaft hatte. Er brachte die Polizei dazu, selbst kriminell zu handeln. Die IRA fand es notwendig, ihn zu töten. Und die Polizei und die Politiker waren in diesem Fall einverstanden mit dieser Hinrichtung.In Ihrem Film sind die Sympathien eindeutig verteilt: Martin Cahill ist die positive Figur. Er wird geradezu mythologisiert.Eines der seltsamen Dinge beim Filmesehen ist, daß wir uns immer mit der Hauptfigur identifizieren. Vielleicht liegt im Film eine Zweideutigkeit darin, daß der Schauspieler Brendan Gleeson selbst so gutmütig ist. Womöglich gibt es hier ein Konflikt zwischen dem Schauspieler, der die Figur spielt, und der Figur selbst. Ich wollte jedoch das Gesamtbild dieses Mannes zeigen, und die Kriminalität ist ein Teil von ihm. Viele Leute finden es verstörend, daß sie mit einer brutalen Figur sympathisieren.Die Dreharbeiten brachten, wie man hört, einige Probleme mit sich?Das vielleicht größte Problem war, daß wir nicht wußten, wie die kriminelle Zunft auf die Dreharbeiten reagieren würde. Und Cahills Familie verweigerte jede Verbindung mit dem Film. Ich hatte ihnen das Drehbuch geschickt, aber keine Antwort bekommen. Außerdem waren wir besorgt, wie die IRA auf die Andeutung reagieren würde, daß es ein geheimes Einverständnis zwischen ihr, der Polizei und den Politikern über Cahills Tod gegeben hatte. Deshalb waren einige Typen mit Gewehren am Set für den Fall, daß es Schwierigkeiten geben sollte. Letztlich gab es keine Probleme, aber wir lebten unter einem schwarzen Schatten.Kaum haben wir das Comeback von John Carpenter mit "Vampire" erlebt, da meldet sich ein weiterer Kultregisseur zurück, den viele seiner Fans schon aufgegeben hatten. Auf das Konto des heute 66jährigen John Boorman gehen Klassiker wie "Point Blank" (1967), "Excalibur" (1981), "Der Smaragdwald" (1985) und "Hope and Glory" (1986). Boorman war der Regisseur, der Werner Herzog gern gewesen wäre, und er brauchte dazu keinen Klaus Kinski. Mehrere seiner Filme spielten im Dschungel oder in Wäldern, sie waren meist bunt, wild und immer poetisch.Um so überraschender nun sein Comeback: Sein Film "The General" wurde in Schwarzweiß gedreht. Es ist kein auffallend schönes Schwarzweiß, auch kein auffallend häßliches. Offenbar soll nichts von der Geschichte und der Hauptfigur ablenken. Statt Chaos bestimmt in "The General" Disziplin das Geschehen, statt Poesie ist Realismus angesagt.Boorman erzählt die uralte Geschichte vom Aufstieg und Fall eines Ganoven. Er tut das ganz konventionell: Martin Cahill (Brendan Gleeson) verläßt morgens sein Haus in einem Vorort von Dublin, steigt in seinen Wagen und wird von einem plötzlich auftauchenden Attentäter erschossen.Das Ende ist also bekannt, das Tatmotiv leicht zu erraten. Wie alle Aufsteiger hat Cahill nicht gemerkt, wo seine Grenzen liegen. Daß "The General" trotz seiner vorhersehbaren Geschichte äußerst spannende Momente hat, liegt an Boormans detailversessener Rekonstruktion von Cahills Raubzügen. Der Einbruch in einen Juwelengroßhandel bedeutet für den Meisterdieb schließlich den Anfang vom Ende: die IRA, selbst zu solch einer Tat außerstande, setzt Cahill auf ihre Todesliste. Die Polizei, die Cahills Treiben hilflos zusehen mußte, läßt der IRA in diesem Fall freie Hand.Cahill hat es wirklich gegeben; seine Ermordung liegt gerade fünf Jahre zurück. Boorman macht nachvollziehbar, wie dieser Mann zum Volkshelden werden konnte. Raffinesse kennzeichnet ihn ebenso wie Bescheidenheit. Beim Aufteilen der Beute nimmt Cahill keine Vorteile in Anspruch. Er eröffnet ein eigenes Sozialamt. Und seinem Wohnviertel Hollyfield fühlt er sich so sehr verbunden, daß er nur Männer von hier als Komplizen duldet. Er lehnt Alkohol und Drogen ab. Er geht nicht einmal fremd. Statt seine Ehefrau und Mutter von vier Kindern zu hintergehen, integriert er seine jüngere Geliebte einfach in die Familie. Ein ebenso liebevoller wie strenger Vater ist er auch für seine Bande. Den drogensüchtigen Komplizen Jimmy nagelt er auf einen Billiardtisch, weil er ihn der Untreue verdächtigt. Im Anschluß an dieses Verhör, überzeugt von der Unschuld des Jungen, lobt er ihn: "Du hast dich fabelhaft gehalten".Brendan Gleeson hat seine Freude an der Rolle und läßt das Publikum daran teilhaben. Da der echte Cahill die Angewohnheit besaß, herumzualbern, die Stimme zu verstellen und mit gespreizten Fingern vor dem Gesicht über die Straße zu laufen, kann Gleeson seinem Affen Zucker geben. Doch er meistert auch die leisen Töne, die ihm die Rolle abverlangt. Zum ersten Mal in seiner Karriere profiliert sich Boorman als herausragender Schauspielerregisseur. Die Unterredungen Cahills mit dem Inspektor Ned Kenney (Jon Voight) sind von einer beklemmenden Intensität, und der Darsteller des jugendlichen Cahill, Eamonn Owens, hätte einen eigenen Film verdient. "The General" bietet eine Fülle von stareken Momenten und bleibt dabei ganz locker und unangestrengt.

Eiszeit (OmU), Hackesche Höfe, Kant, Passage

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