zum Hauptinhalt
Bunkermentalität. Zwei Ehepaare zerlegen sich in Roman Polanskis „Der Gott des Gemetzels“ – und kleben aneinander.

© Constantin

Beobachtungen zu aktuellen Kulturtendenzen: Denn wie es drinnen aussieht, geht jeden was an

Wohin man in den Genres 2011 auch blickte, überall verengten sich die Räume: Im Kino, im Theater, in der Bildenden Kunst, selbst in der Literatur hat das Autobiografische Konjunktur. Dieser auffällige Hang zur Innenschau ist eine Reaktion auf die Krise.

Sie kommen nicht raus. Ständig wollen sie gehen, stehen schon im Flur, verabschieden sich. Aber dann kommen sie zurück. Auf ein letztes Glas, einen weiteren Disput; der Clinch hört nie auf.

Im Originaltheaterstück von Yasmina Reza sind die Flurszenen mit den beiden Mittelstandsehepaaren nicht explizit vorgesehen. In Polanskis Verfilmung von „Der Gott des Gemetzels“ rhythmisieren sie das Geschehen. Wie von einem Magneten angezogen, kehren Kate Winslet und Christoph Waltz immer wieder ins New Yorker Apartment von Jodie Foster und John C. Reilly zurück, um die Fehde über die Schlägerei ihrer Söhne bis zur bitteren Neige auszutragen. Sie lassen nicht locker. Und wenn sie nicht gestorben sind, fetzen sie sich noch heute.

Vielleicht hängt es nur an Roman Polanskis juristischer Fußfessel – in den USA liegt ein Haftbefehl wegen seines Missbrauchsdelikts von 1977 gegen ihn vor, deshalb stand er in der Schweiz unter Hausarrest –, dass er den klaustrophobischen Aspekt des Boulevardklassikers betont. Aber seine „Gemetzel“-Adaption ist auf der Höhe der Zeit. 2011 ist das Jahr, in dem die Kunst und das Kino, die Literatur und das Theater die Räume eng machten. Eine Saison voller Kammerspiele und Nabelschauen. Die Welt steckt derart in der Krise, dass einem bang werden kann. Da bleibt man lieber zu Hause, kapselt sich ab, duckt sich weg. Es herrscht Bunkermentalität.

Am deutlichsten fiel das in Venedig auf, bei der Kunstbiennale wie bei den Filmfestspielen. Selten waren so viele Pavillons in den Giardini zugestellt mit Haus- im-Haus-Installationen, die die Besucher auf verwinkelte Parcours schickten. Die längste Schlange der Weltkunstschau wartete von Juni bis November vor dem britischen Länderpavillon, in den Mike Nelson eine türkische Karawanserei aus dem 17. Jahrhundert hineingebaut hatte. Istanbul reloaded: eine Dunkelkammer der europäischen Geschichte, mit niedrigen Decken, schmalen Stiegen, spärlich beleuchteten Kammern. Ständig eckte man an und stieß sich den Kopf.

Thomas Hirschhorn müllte den Schweizer Pavillon mit zellophanverpacktem Wohlstandschrott zu und arrangierte eine irritierende Gegenwartshöhle, bei den Franzosen baute Christian Boltanski ein Stahlgerüst bis zur Decke ein, mit ratternder Lebenslaufachterbahn. Labyrinthe und Sackgassen auch beim Österreicher Markus Schinwald, Christoph Schlingensiefs „Kirche der Angst“ als Gedenkweihestätte im deutschen Pavillon fügte sich trefflich ins Bild. Die Fenster verblendet, das Licht gedämpft, der Blick verstellt: „Soll die Welt ruhig rotieren, die Kunst hält sich bedeckt und freut sich am Vertrauten“, schrieb Hanno Rauterberg in der „Zeit“. Selbst im ägyptischen Pavillon, einer Hommage an den im Januar auf dem Tahrir-Platz erschossenen Künstler Ahmed Basiony, drehte sich der Gewürdigte in seiner Performance „30 Days of Running in the Place“ unermüdlich im Kreis. Ein Loop der Rebellion.

Geschlossene Gesellschaften, Close- ups, Introspektiven. Auf dem Buchmarkt hatte das Autobiografische auch 2011 Konjunktur, von Charlotte Roche über Alice Schwarzer bis zu Steve Jobs. Literatur nährt sich häufig vom Biografischen, aber derzeit ist sie besonders nah dran am eigenen Erleben, jedenfalls im deutschsprachigen Raum. Oskar Roehlers Roman „Herkunft“, Eugen Ruges mit dem Buchpreis ausgezeichnetes DDR-Familienepos „In Zeiten des abnehmenden Lichts“, Joseph Bierbichlers bayrisches „Mittelreich“, A. F. Th. van der Heijdens Requiem auf den eigenen Sohn „Tonio“ oder Navid Kermanis Tagebuchwälzer „Dein Name“: Die Liste ist lang, wie Gregor Dotzauer kürzlich in seinem Essay „Die anderen Egos und ich“ feststellte (Tagesspiegel vom 16. 12.).

Seite 2: Rasender Stillstand im Angesicht des Infernos

In den Frühjahrsprogrammen der Verlage setzt sich das fort. Mitte Januar bringt Eugen Ruge bei Rowohlt die überarbeitete Autobiografie seines Vaters, des DDR-Historikers Wolfgang Ruge, neu heraus, Tanja Postpischil vom Suhrkamp Verlag registriert eine „Tendenz zur Schilderung des Moments“. (Globetrotter, Roadmovies, Imaginations- und Fabulierkünste sind kaum zu vermelden.) Statt unbekannter Welten eröffnet man lieber Erinnerungsräume und besinnt sich auf die Familie als Keimzellkern der Gesellschaft. Wogegen nichts einzuwenden ist: Es ist was faul im Staate, und die schönen Künste gehen zurück zu den Wurzeln, leisten weniger politisch- strukturelle als psychologische Ursachenforschung. Selbst David Cronenberg, Meister der kühlen Zivilisationskritik, brachte im Herbst einen Kostümfilm heraus. „Eine dunkle Begierde“ blickt auf die Auseinandersetzung zwischen Freud und Jung in den Anfängen der Psychoanalyse zurück. Leider ist es Cronenbergs bislang betulichster Film.

Das Theater betreibt den Minimalismus auf seine Weise. Ob Stephan Kimmigs verkürzte, verzwergte Version von „Trauer muss Elektra tragen“ am Deutschen Theater oder etliche Produktionen beim Theatertreffen im Mai: Die aktuelle Dramatik verschließt sich gern den eigenen Optionen. Selbst das politische Theater schottet sich ab, wird zum Bollwerk gegen die feindliche Welt. Man zieht sich auf Beobachtungsposten zurück, zoomt sich aus sicherer Warte an das Geschehen heran. Im besten Fall sorgt die Reduktion für Verdichtung und Seelenschau, im schlechtesten zur Verniedlichung. Es kommt darauf an, in welcher Richtung man durchs Fernglas guckt.

Als oberster Verengungsstratege fungiert seit Jahren Michael Thalheimer mit seinem Bühnenbildner Olaf Altmann. Verknappung ist sein Markenzeichen. Schon 2005 setzte er Janaceks „Katja Kabanowa“ in der Berliner Staatsoper vor eine Riesenwand, die sich in Zeitlupe nach vorne schob und den Spielraum am Ende verschloss. Seine in schmalen Schlitzen spielenden „Ratten“ 2008 am DT, die Hühnerleiter für Hauptmanns „Weber“ im Januar und zuletzt Tolstois in niedrige Gänge gepferchte „Macht der Finsternis“ an der Schaubühne sorgten dafür, dass den Schauspielern der aufrechte Gang jedes Mal verwehrt blieb. Kopf neigen, Knie beugen, sich bücken und buckeln: Ecce Homo 2011, gefangen im Hier und Jetzt.

Da probt einer den Aufstand und kommt nicht vom Fleck. Das erlebt auch Jake Gyllenhaal im Blockbuster „Source Code“, einer der wenigen bemerkenswerten Hollywoodproduktionen in diesem Jahr. Gyllenhall hat immer wieder die gleichen acht Minuten Zeit, um einen Terroranschlag auf Chicago zu verhindern. Immer wieder findet er sich im selben Zug mit denselben Passagieren und derselben drohenden Katastrophe konfrontiert. Und stündlich grüßt das Murmeltier, er steigt nicht zweimal, sondern zigmal in den gleichen Zeitfluss. Sisyphos als Actionheld.

Rasender Stillstand im Angesicht des Infernos lautet das Gebot der Stunde. In den meistdiskutierten Kinofilmen des Jahres, Terrence Malicks „Tree of Life“ und Lars von Triers „Melancholia“, geht es um beides, um das Nächste und Fernste, um Schutzraum und Weltraum, den Kokon der Familie und die Weiten des Universums. Beides kollidiert, Vatermutterkinder genauso wie die Planeten. Das Innerste stülpt sich nach außen; vor allem in den hypnotischen Bildern von „Melancholia“ werden die Räume zugleich unendlich weit und unerträglich eng. So mancher Zuschauer hat die aggressiv-nervöse Handkamera beim Hochzeitsfest von Kirsten Dunst und Alexander Skarsgard kaum ertragen können.

Das Bild des Jahres: die magische Hütte im Schlosspark am Ende von „Melancholia“. Der Todesplanet verschattet Wiesen und Wälder, die Apokalypse ist unaufhaltsam. Die Braut baut ein Tipi aus Holzstöcken für sich, die Schwester und den Neffen. Sie macht den Raum ganz klein, für die drei letzten Menschen auf Erden. Es ist ein luftiges Zelt, ein kultischer Ort, der keinerlei Schutz bietet, dafür aber den Blick nicht versperrt. Da sitzen sie nun und halten sich fest.

Das ist die Kunst, die Kunst in einer Welt, die keine Götter und keine Gewissheit mehr kennt.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false