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Kultur: Berend-Lehmann-Museum: Mikwe der Moderne

Schwere Limousinen fahren, von der Polizei eskortiert, im Schritttempo durch die Baken-Straße. Prominenz, die das Berend Lehmann Museum für jüdische Geschichte und Kultur mit einem Festakt eröffnet hat, verlässt die Halberstädter Altstadt.

Schwere Limousinen fahren, von der Polizei eskortiert, im Schritttempo durch die Baken-Straße. Prominenz, die das Berend Lehmann Museum für jüdische Geschichte und Kultur mit einem Festakt eröffnet hat, verlässt die Halberstädter Altstadt. Essens- und Getränkestände, Büchertische, ein Flohmarkt: Das bürgerliche Publikum nimmt sein neues Museum mit einem "Fest der Toleranz" in Besitz. Dabei lässt es sich auch nicht von der fahrenden Lautsprecherbox stören, auf deren Rückscheibe in gotischen Lettern prangt: "Opel-Freunde Halberstadt". Mit wummernden Bässen kreuzt der Wagen zwischen Rosenwinkel und Baken-Straße über einen Platz, der von restaurierten Fachwerkhäusern und Baudenkmälern umstanden ist. Hier hatte die jüdische Gemeinde bis 1938 ihren Mittelpunkt, zwischen der Klaussynagoge samt Rabbiner-Seminar, dem Kantorhaus, der Schule und der von Wohnhäusern umschlossenen Gemeindesynagoge; nach dem November-Pogrom blieb von ihr nur eine Ruine. Man passiert sie auf dem Weg zu einer Häuserzeile, in der Teile der alten Gemeindemikwe, des Bades für rituelle Waschungen, erhalten sind.

Hier ist das neue Museum untergebracht, als Teil des alten Viertels und Ort einer Ausstellung über das historische Bau-Ensemble. Diese macht den Ort lesbar, indem sie Linien zur Geschichte der Juden in Preußen zieht. Halberstadt wird erkennbar als eine von jenen deutschen Städten, in denen über Jahrhunderte eine vitale jüdische Gemeinde ansässig war. Bis die Gemeinde 1938 zerstört wurde, entwickelte sie sich - von ihren Anfängen im Schatten des romanischen Doms - zu einem Zentrum der jüdischen Neu-Orthodoxie.

Die von Handschriften, Buchdrucken, Stichen und religiösen Kult-Gegenständen dominierte Ausstellung begleiten ausführliche Erläuterungstafeln. Textlastigkeit macht das Unternehmen zu einer schwerfälligen Angelegenheit, allerdings werden die Mühen der Lektüre belohnt durch die Bekanntschaft mit bemerkenswertem historischen Personal. Ein Faksimile des kurfürstlichen "Generalgeleit" für die Halberstädter Juden aus dem Jahre 1650 thematisiert die Ansiedlung der Juden im Zeichen preußischer Toleranzpolitik. Nach dem Dreißigjährigen Krieg fiel das Bistum Halberstadt an Brandenburg-Preußen. Im Zuge seiner "Peuplisierungspolitik" holte der Kurfürst "Schutzjuden erster Klasse" in die Stadt. Das Generalgeleit gab ihnen Rechtssicherheit. Die "Schutzbrief"-Zahlungen füllten das Stadtsäckel. Konflikte blieben trotzdem nicht aus: Ein Beschwerdebriefe aus dem Jahr 1669 dokumentiert, dass sich die Gemeinde über die Demolierung ihrer Synagoge durch Halberstädter Bürger beim Kurfürsten beschwert. Der erlegt der Stadt Schadenersatz auf.

Die Zentralfigur dieser Aufbruchsperiode ist Berend Lehmann, dessen Familie 1680 von Essen übergesiedelt war. Er stieg auf zu einem der bedeutendsten Hofjuden, diente als Finanzier drei Fürstenhäusern: Brandenburg-Preußen, Sachsen und Hannover. Hofjuden waren ein Produkt des Absolutismus, der den Einfluss des Adels beschnitt und die Macht am Hofe konzentrierte: eine Riege kompetenter, nicht in die Feudalstrukturen eingebundene Funktionäre im Dienste der Fürsten, Fachleute für das Heeres-, Finanz- und Steuerwesen. Berend Lehmanns größter Coup war der Erwerb der polnischen Königskrone für August den Starken. 10 Millionen Taler macht er im Etat frei, um polnische Wahlmänner geneigt zu machen. In Halberstadt betreibt der Finanzexperte eine Großmeierei und wirkt als Mäzen. Da viele Überlieferungen im Dreißigjährigen Krieg verloren gegangen waren, lässt er 1696 eine Ausgabe des Babylonischen Talmud drucken und kostenlos an jüdischen Gemeinden verteilen. Er gründet eine Stiftung, die den Bau zweier Synagogen und ein Rabbinerseminar finanziert.

Eine Radierung im zweiten Ausstellungsteil zeigt den großen "Sanhedrin": prunkvoll gekleidete jüdische Notablen aus Frankreich, Italien und Deutschland. Napoleon hatte sie 1807 nach Paris einberufen, zuvor war der Kultus der Isrealiten anerkannt worden. Ein wichtiges Datum für die Haskala, der im Sog der Aufklärungsbewegung einsetzenden Modernisierung der jüdischen Welt. Moses Mendelssohn hatte für eine Öffnung zur christlichen Umwelt plädiert, bei gleichzeitigem Festhalten am religiösen Gesetz; die Halberstädter Gemeinde entwickelte sich in der Folge zu einem Zentrum der Neu-Orthodoxie, welche ihren stärker traditionsgebundenen Weg in die Moderne suchte. Eine führende Rolle nahm dabei die Dynastie des Aron Hirsch ein. Feines Porzellan mit Familien-Wappen, Fotografien vom Stadthaus mit Fensterbogen in der Form von Gesetzestafeln und von modernen Fabrik-Anlagen: eine Melange aus Frömmigkeit, großbürgerlichem Lebensstil und aufgeklärtem Unternehmertum ist zu besichtigen. Hirschs 1806 gegründeten Kupfer- und Messingwerke brachten es um 1920 auf 50 000 Beschäftigte. In den Fabriken war der Sabbat arbeitsfrei, der Sonntag Arbeitstag. Die fromme Familie finanzierte 1891 die Renovierung einer Mikwe, deren Reste zu besichtigen sind. Ein Sinnbild für die neu-orthodoxe Verbindung von Tradition und Moderne: Das nach alter Sitte von kalten Grundwasser gespeiste Ritualbad erhielt Warmwasserzufuhr und vermittelte - gekachelt, geheizt - etwas von der Atmosphäre wilhelminischer Kur-Bäder.

Die letzte Station erzählt - mit narrativen Techniken, die auch im Washingtoner Holocaust Memorial genutzt werden - von der Vernichtung der Gemeinde. Ein Judenstern aus der Opferperspektive: die Rückseite zum Betrachter vor einem Spiegel aufgestellt. Der Briefbericht von der Deportation 1942 versinnbildlicht den Zivilisationsbruch: übers Eck gespannt, gespalten. Der Beschluss der Stadt, die Synagoge abzureißen, ist in die Glasfront graviert, durch die man auf ihre Ruine blickt. "Selten oder nie habe ich auf einem kleinen Ort zusammengedrängt so viele originelle Menschen angetroffen wie damals in Halberstadt", kündet eine Zitat des Schriftstellers Sammy Gronemann an der Stirnwand. Dort sammeln sich Fotos und Visitenkarten zu einer Montage des Gedenkens: Ida und Samuel Baer, Joseph Nussbaum und Frau, Eva und Ferdinand Meyer, Rosa Auerbach ... Im Treppenhaus ermutigen den Besucher alte und neue Stadt-Ansichten, das historische Ensemble zu erkunden: den Außenraum des Museums und die rauhe Gegenwart, in der neues jüdisches Leben an alte Wurzeln anknüpfen soll. Im Rabbiner-Seminar, wo heute die Moses Mendelssohn Akademie logiert, möchte man bald wieder Rabbiner ausbilden.

Gerwin Klinger

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