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Kultur: Berlin ist des Teufels

Goethe und das Tempo der Großstadt: Zur „Faust-Konferenz“ am Deutschen Theater

Mai 1778: Goethe besucht in Begleitung seines Herzogs Carl August Berlin. Er tut es ungern, und er wird Berlin nie wieder besuchen. Hatte er doch schon 1766, während seiner Studienzeit in Leipzig, wenig schmeichelhaft über die Stadt notiert, „daß jetzo in ganz Europa kein so gottloser Ort“ zu finden sein möchte.

Nun aber, im Mai 1778, muss er diesen Ort doch besuchen, weil Kriegsgefahr droht im Zusammenhang mit dem Bayerischen Erbfolgekrieg. Denn man will vorsichtig in Erfahrung bringen, ob für die mitteldeutschen Fürstentümer Gefahr besteht, in neue Auseinandersetzungen zwischen Preußen und Österreich verwickelt zu werden. Goethe hat für einige Tage im Hotel au Soleil d’Or Unter den Linden 23 Quartier bezogen und berichtet an Charlotte von Stein, er sitze an der „Quelle des Krieges, in dem Augenblick, da sie überzusprudeln droht. Und die Pracht der Königsstadt, die tausend und tausend Menschen, bereit, für sie geopfert zu werden.“

1825 wird Goethe dann gegenüber seinem Großneffen Nicolovius in Berlin den Begriff präzisieren, den er mit dieser „Königsstadt“ verbindet: das „Veloziferische“. Die Verschränkung der Geschwindigkeit (lateinisch velocitas) mit Luzifer, dem Teufel. Eine Formel der Moderne, die Goethe im Briefwechsel mit seinem Berliner Freund, dem Komponisten Carl Friedrich Zelter, variieren wird mit Hinweisen auf Berlin als „veloziferische“ Großstadt, deren „Unterhaltung“ er als gefährlich bezeichnet, weil sie nicht sammelt, sondern zerstreut. „Abenteuer“ hängen daran, „die ich zu bestehen nicht den Mut habe“. Schon in ruhigen, weniger noch in unruhigen Zeiten sollte man nicht nach Berlin streben: „Wer einmal darin steckt, mag schwimmen und waten wie es gehen will.“

Zelter repräsentiert in Berlin für Goethe einen Anti-Faust, einen Entschleunigungs-Helden in einer sich übereilenden Mobilmachungskultur. Es ist die Mobilmachungskultur der Faust-Tragödie, die in den Inszenierungen Michael Thalheimers im Deutschen Theater Berlin zu besichtigen ist, Publikumsrennern, die mittlerweile Kultstatus genießen. Zumindest lassen sich die kaum je zweistündigen Aufführungen beider Teile des „Faust“ in diesem Sinne deuten. Steht doch am Anfang der Faust-Tragödie das Wort: „Fluch vor allem der Geduld!“ Peter Steins Faust-Marathon von reichlich zwanzig Stunden kann als Radikalentwurf der Entschleunigung verstanden werden – der ganze Goethe und ganz Goethe!?

Es ist Luzifer-Mephisto, der Faust die Instrumente des Veloziferischen andient, den schnellen Degen, die schnelle Liebe, den schnellen Mantel, das schnelle Geld. Und es ist Faust, der sich am Ende der Tragödie seine letzten Wünsche auf veloziferische Weise erfüllt. Zum Beispiel durch den Auftragsmord an den beiden mythologischen Gestalten Philemon und Baucis, die auf seinem Grundstück siedeln und deren Tod Faust dann kommentiert mit den Worten: „befohlen schnell, zu schnell getan“.

Ein barbarischer Akt im Zeichen faustischer Gewinnung von Fortschritt. Er ist verschwistert mit Vergangenheitshass, mit einer Liquidierung kulturellen Gedächtnisses im Zeichen des Erwerbs von Zukunftskompetenz ohne Herkunfts-Kenntnisse. Faust als Vorläufer einer rasenden Gesellschaft des Vergessens, in der das Leben nur noch nach vorwärts gelebt, aber nicht mehr nach rückwärts verstanden wird. Mit jener Folge, die Grillparzer schon 1848 dem „Gang der neueren Bildung“ prophezeit hat, „von der Humanität über die Nationalität zur Bestialität“.

Es ist daher nur konsequent, wenn in der Inszenierung Michael Thalheimers die letzte Stufe dieses Dreischritts grandios transparent wird. Das Veloziferische, das Goethe selber bereits als das „größte Unheil unserer Zeit“ bezeichnet hatte, feiert jetzt mit Ingo Hülsmann als Faust und Sven Lehmann als Teufel (und Regine Zimmermann als Gretchen) alle Höllen-Triumphe der Moderne. Den Irrtum als sich übereilendes Denken – und die Gewalt als sich übereilendes Handeln.

Im rasenden Stillstand, ohne Vorspiel, ohne Prolog im Himmel, ohne jede Begnadigung durch einen chorus mysticus, führt die Faust-Gestalt des Deutschen Theater vor: die auf bestialische Untaten reduzierte Schleifspur eines ewig Unzufriedenen. Er ist auf dem Wege in das von Mephisto gepriesene „Ewigleere“. Eine Inszenierung, die im Zeichen des weiterstürmenden Titelhelden Ernst macht mit dem in Goethes Faust mitgedachten autistisch-kriminellen Ego der Selbstzerstörung. Ein Wüstling zugleich, der die modernen Orgien des Vergessens feiert. Der in Lethes Tau nach dem brutalen Liebesverrat der Gretchen-Szene höhnisch ins Nichts bellt: „Am farbigen Abglanz haben wir das Leben.“

Erlaubt Goethes Tragödie diese Deutung eines nihilistischen Weltzustandes wie in Becketts „Warten auf Godot“? War Faust für Goethe ein Berliner? Goethe selber hat sich dieser Frage im zweiten Teil der Tragödie entzogen: Denn er hat das Manuskript vorsorglich versiegelt. Er wollte jedenfalls Missverständnisse vermeiden, die er ironisch verstanden hat als die „Quellen der Unterhaltung und des tätigen Lebens“.

Eine wohlwollende Deutung könnte zu dem Schluss gelangen, dass Goethes Berlin-Verweigerung nur Selbstschutz eines zur Kleinstadt neigenden und die Zerstreuung meidenden Dichters war, der schon das Erlebnis der damaligen Berliner Großstadt (mit rund 140 000 Einwohnern!) als befremdlich empfand. Außerdem kommt dieser Berliner Großstadt der Goethe-Zeit das Verdienst zu, ausgerechnet in Sachen der Goetheschen Faust-Tragödie eine Pionierrolle spielen zu dürfen. War es doch der mit dem preußischen Königshaus verschwägerte Statthalter des Großherzogtums Posen, der polnische Fürst Anton Radziwill, der als Komponist, Cellist, Sänger und Musik-Mäzen bereits 1808 in Berlin mit der Vertonung des Goetheschen Faust begann und erstmals die musikalische Aufführbarkeit dieser Tagödie auf der Bühne unter Beweis stellte.

Und durchaus mit Erfolg: Bei der ersten privaten Aufführung im Schloss Monbijou von 1819 agierte immerhin Herzog Carl von Mecklenburg als Mephisto, und das Bühnenbild hatte Schinkel entworfen. Und als 1814 Radziwill in Weimar gar auf dem Cello Auszüge – wie Goethe notierte – „seiner genialischen, und glücklich mit fortreißenden Komposition“ vorspielte, nahm Goethe dies zum Anlass, einige Szenen seines opus magnum der Berliner Aufführung anzupassen und sogar Zwischentexte neu zu entwerfen. Am 25. 10. 1825 war es dann soweit: Der Berliner „Singakademie“ gelang die erste öffentliche Aufführung.

Berlin also doch kein „gottloser Ort“? Ob aber das Theater überhaupt – gegenüber dem Film und den anderen elektronischen Medien – zum Medium der Langsamkeit geworden ist, darüber mag die Faust-Konferenz am Deutschen Theater Aufschluss geben.

Der Autor war bis 2004 Generalsekretär der Alexander-von-Humboldt-Stiftung. Bei Suhrkamp erscheint diesen Monat sein Buch „Die Kunst, Fehler zu machen“.

Die von Michael Jaeger konzipierte Faust-Konferenz findet am 11. und 12. Februar jeweils ab 11 Uhr im Deutschen Theater Berlin statt. Neben Manfred Osten sprechen u. a. Hans-Jürgen Schings („Faust und die Schöpfung“), Ernst Osterkamp („Helena“) und Nicholas Boyle („Der religiöse und tragische Sinn von Fausts Wette“).

Manfred Osten

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