zum Hauptinhalt
Die Schriftsteller Viktor Martinowitsch (sitzend) und Gerard Donovan (stehend).

© Chung Wenyin

Berlin-Tagebuch von Viktor Martinowitsch: Ein Weißrusse am Wannsee

Der Schriftsteller Viktor Martinowitschs war zu Gast beim Literarischen Colloquium Berlin. Wie er die Stadt erlebte, auf Radwegen oder im Tiergarten, und was ein Stadtplan mit Karma zu tun hat, lesen Sie in seinem Tagebuch.

Auf der Wiese vor der Villa, die unsere Schriftstellergemeinschaft beherbergt, stehen eine 200-jährige Eiche und eine riesige Platane, deren Alter ich nicht einmal schätzen kann. Der dunkle, raue Stamm der Eiche und die helle, ganz in Ocker gescheckte Platane lassen mich unwillkürlich denken, wie unmöglich so etwas in unserem postsowjetischen Kontext wäre. Wer würde zwei alte, in ihr Zwiegespräch vertiefte Bäume hoch über einem Seeufer erhalten?

***

Am Wannsee kam eine feine alte Dame auf mich zu, gekleidet wie Roman Abramowitschs Mutter. Sie verblüffte mich nicht wenig, als sie mich um Geld bat. Ich ertastete eine 50-Cent-Münze in meiner Manteltasche und gab sie ihr mit den Worten: „Sie werden entschuldigen, ich habe nicht mehr, ich bin Schriftsteller.“ Sie nahm die Münze würdevoll entgegen, nickte erhaben und erwiderte: „Ich bin auch Schriftstellerin. Aber besser als Sie, ich habe nämlich keine 50 Cent.“

***

Der schrecklichste Ort der Stadt ist das Mahnmal für die ermordeten Juden. Beim Betreten trägst du noch ein schiefes Grinsen im Gesicht – man hat schließlich schon anderes gesehen. Du schlenderst umher, und die glatten Betonplatten werden größer und größer, wie deine Angst. Die Erde sinkt unmerklich ein, und du gerätst in einen licht- und luftleeren Wald, ohne dass du sagen könntest, ab welchem Punkt das Ganze nicht mehr lächerlich war. Ich verabscheue meine Angst, deshalb bin ich mitten in der Nacht hierher gekommen und in das schwärzeste Schwarz gegangen. Dann begann der Teufelsspuk – da waren plötzlich kleine Kinder, die sich in der bleiernen Stille in einer mir unbekannten Sprache etwas zuwisperten und immer wieder hinter den Platten hervorlugten. Panisch stürzte ich zum Ausgang, als hoch über mir, von einem Betonblock zum nächsten springend, eine Horde Teenager vorüberzog.

***

"Sind Sie Dichter?" - "Nein, ich bin Schrifsteller!"

Erste Begegnung mit der taiwanischen Schriftstellerin Chung Wenyin. Sie: „Viktor, sind Sie ein Dichter?“ Ich: „Nein! Nein! Wo denken Sie hin! Ich bin Schriftsteller!“ Der Ire Gerard Donovan, der die Szene verfolgt hat, kämpft mit einem zehnminütigen Lachanfall. Er krümmt sich regelrecht vor Lachen. Immer wieder fängt er an: „Are you a poet? No! I’m a writer!“ Schließlich bekommt er japsend heraus, dass ich meinen Platz in der Literaturgeschichte sicher hätte mit diesem Spruch. Und er ergänzt, er hätte genauso geantwortet. Dabei habe ich seine Prosa gelesen – seine Beschreibungen sind erfüllt von reiner, hoher Poesie.

***

Wenyins Name bedeutet so viel wie Literatur oder Stimme. Eine Zukunft als Romancière war ihr in die Wiege gelegt. Sie erinnert mich an Maggie Cheung, die Lieblingsdarstellerin von Wong Kar-Wai. Dieselbe Halspartie, derselbe Gang. Wenn sie ihr Gegenüber nicht versteht, eine Gesprächspause sich zu lange hinzieht oder sie nicht weiß, wie sie eine komplexe Empfindung ausdrücken soll, lacht sie.

***

Hundert Meter vom LCB entfernt, steht eine von Friedrich Drake geschaffene Marmorstatue. Eine Muse, eine Göttin, vielleicht auch Bismarck. Nein, Bismarck steht 50 Meter näher am Wasser, also unbedingt eine Muse. Alle Finger der rechten Hand sind abgeschlagen. Deshalb gilt sie den Schriftstellern im Haus als Denkmal des Kritikers.

***

Unterwegs zur Pfaueninsel

Mit Gerard und Wenyin unterwegs zur Pfaueninsel. Wir finden sie nicht, dafür beschreibt uns Gerard ausführlich, wie es sich anfühlt, wenn du deinen ersten Tantiemen-Scheck für deine in Deutschland übers Jahr verkauften Bücher bekommst. Gerard ist toll. Longlist des Man Booker. Nobelpreis in Reichweite. Wenyin hat ein schönes Foto von uns beiden gemacht - und da heißt es, die Schwarz-Weiß-Fotografie sei am Aussterben.

***

Habe Viktor Pelewin gesehen. Ein wahrhaft inniges Gespräch zweier überzeugter Radfahrer.

***

Jeden Tag fünf bis sechs Stunden spazieren, so denkt es sich am besten. Meine Wege sind meist spontan - ich markiere mir einen Punkt im Stadtplan, schlendere dorthin, trinke einen Kaffee und lasse mich weiter treiben. Ständig zieht es mich in den Tiergarten, zwischen seinen Bäumen und Bänken komme ich zu mir. Mir ist aufgefallen, dass hier in der Innenstadt auf den Spielplätzen überhaupt keine Kinder zu sehen sind. Wahrscheinlich sitzen sie zu Hause und eignen sich die Gadgets an, die sie von ihren Eltern bekommen haben; aber auf den Karussells oder den schönen, stabilen Schaukeln sitzen nur nachdenkliche, einsame Erwachsene, die von dort einen Blick in die eigene Kindheit zu werfen scheinen.

In Berlin gilt: je kleiner, desto cooler.

Die Schriftsteller Viktor Martinowitsch (sitzend) und Gerard Donovan (stehend).
Unterwegs zur nie erreichten Pfaueninsel: Die Schriftsteller Viktor Martinowitsch (sitzend) und Gerard Donovan (stehend).

© Chung Wenyin

Gerard sagt, nach unserem Gespräch über das Thema seines aktuellen Romans habe er die ganze Nacht durchgeschrieben und 40 000 Zeichen zusammenbekommen. Er ist ganz beschwingt. Ich beneide ihn. Diese Form des Neids ist in Schriftstellerkreisen wohl die schmerzlichste. Wenn einer im Schreibfluss ist, während dir alles danebengeht. Schlimmer ist nur noch, einen fremden Roman zu lesen und zu spüren, das ist so stark, in diese Sphären wirst du niemals vordringen.

***

Die China-, Thai- und vietnamesischen Restaurants in Berlin sind ganz anders als ihre Pendants in Minsk oder Vilnius. Das Minsker Chinarestaurant schreit einem, wenn man denn eines findet, sein chinesisches Wesen aus allen Ecken entgegen. Es muss mit Fächern behängt sein, in Rot gewandet, golden bestickt. In Berlin erkennt man die asiatische Küche nur am Namen, innen herrscht gewöhnliche urban fusion. Sie ist schon so lange heimisch in dieser Stadt, dass sie sich selbst nicht mehr als exotisch wahrnimmt, sie gehört zum Stadtbild. In Deutschland isst du keine Hanoi-Pho, hier gibt es Berliner vietnamesische Küche.

***

In Berlin gilt: je kleiner, desto cooler

In Minsk, Moskau, Vilnius, Kiew oder Istanbul wird mit der Größe des Autos geprotzt. Je größer die Karre, desto cooler der Fahrer. Aber in Berlin gilt: je kleiner, desto cooler. Ein Schrumpfwettlauf. Wer einmal dem Fahrer eines Smart ED ins Gesicht gesehen hat, weiß, wovon ich spreche.

***

Wer in Augenschein nehmen möchte, wie Zwerge hausen, setze sich in den Zug nach Potsdam und schaue sich in der Gegend von Nikolassee um. Ich habe immer gewusst, dass das deutsche Bruttoinlandsprodukt eigentlich auf geheimen Goldvorkommen basiert, die von Zwergen in Bergwerksstollen abgebaut werden.

***

Habe festgestellt, dass auch in Berlin die Faustregel gilt, die mir die Leute am Institut in Wien mitgegeben haben: „Du darfst über die Straße laufen. Du darfst dich sogar auf die Straße legen. Aber setze um Himmels Willen keinen Fuß auf einen Radweg! Wenn dich ein Auto überfährt, ist der Fahrer schuld, sogar wenn du schuld bist. Wenn dich ein Radfahrer überfährt, bist du schuld, sogar wenn er schuld ist.“

***

Von wegen, es gibt kein Karma!

Hochspannend, die Architektur im Ostteil der Stadt. Erinnert an die Gebäude, die die jüngsten belarussischen Neubauten gern wären. Das glaubt mir kein Mensch, aber sogar die matten ockerfarbigen Fliesen am Tschisch-Haus in Minsk hat die Architektur der späten DDR exakt vorweggenommen.

***

Wann immer ich irgendwo wegfahre, versuche ich, meinen Stadtplan an einen Touristen loszuwerden, der ihn noch gebrauchen kann. Ich habe keine Verwendung mehr für ihn, anderen kann er noch hilfreich sein. Wenn mich jemand fragt, wie man irgendwohin kommt, strecke ich ihm einfach den Plan hin und sage: „Ich brauche ihn nicht mehr.“ An meinem ersten Tag in Berlin schenkte mir ein Fremder einen schönen großen Stadtplan, als ich von ihm wissen wollte, wie ich von der Friedrichstraße zum Oranienburger Tor komme. Er sagte: „Ich reise heute ab. Ich brauche den Plan nicht mehr.“ Meine Worte, meine Geste. Von wegen, es gibt kein Karma!

***

Wo in anderen Städten der Himmel hängt, ist über Berlin ein Meer ausgegossen. In der Dämmerung, wenn es allmählich zu intensivem Ultraviolett anschwillt, kann man spüren, wie tief es sein muss. Der Brandungsstreifen ist mit Wolkenschaum gesäumt. Wenn man ganz genau hinsieht, erkennt man, wie sich auf dem Grund verzauberte Wasserpflanzen wiegen, über denen die Flugzeugmakrelen ihre Bahnen ziehen. Nachts spiegeln sich nicht selten Mond und Sterne im Meer.

***

Einsame Menschen sind ganz von sich selbst erfüllt

Gerard hat sich ein Fernglas gekauft – einen leichten Steiner zum Vögel-Beobachten. Er erzählt, sein Hund sei gestorben, den er zu allen Terminen mit Agenten und Verlegern mitgenommen hatte, und wenn der Hund jemanden nicht mochte, habe er nie unterschrieben, waren die Konditionen auch noch so gut. Wir trinken einen Kaffee auf der offenen Terrasse über dem See, bevor ich mich an den Schreibtisch verziehe und ihn mit seinen wilden Kranichen alleine lasse. Er sitzt dort noch stundenlang, in absoluter Stille.

***

Wenn du die Einsamkeit spürst, dann ist da jemand, nach dem du dich sehnen kannst. Wahrhaft einsame Menschen sind ganz von sich selbst erfüllt.

***

Wenyin hat mir ihr Buch doch nicht geschenkt.

Viktor Martinowitsch, 1977 im Nordwesten von Weißrussland geboren, studierte Journalismus in Minsk, promovierte in Kunstgeschichte mit einer Arbeit über Marc Chagall und die Witebsker Avantgarde und lehrt heute Politikwissenschaften an der Europäischen Humanistischen Universität im litauischen Vilnius. Er machte als russischsprachiger Autor von sich reden, sein Roman „Paranoia“ wurde 2009 kurz nach Erscheinen in Weißrussland verboten, erschien aber 2013 auf Englisch und vergangenes Jahr in der Übersetzung von Thomas Weiler bei Voland & Quist in Leipzig auf Deutsch (400 S., 24,90 €, Nachwort von Timothy Snyder). 2012 erhielt Martinowitsch den Maksim-Bahdanowitsch-Preis.

Übersetzt aus dem Weißrussischen von Thomas Weiler.

Viktor Martinowitsch

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false