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Berlinale-Chef Dieter Kosslick mit dem jüngsten Berlinale-Schal. Es muss ja nicht immer rot sein.

© AFP

Berlinale-Chef im Interview: "Alles geht schneller, aber es wird auch komplizierter"

Berlinale-Chef Dieter Kosslick spricht im Tagesspiegel-Interview über rote Straßen, schnelle Filme, die digitale Berlinale – und starke Frauen im diesjährigen Wettbewerb.

Berlinale-Zentrale, Potsdamer Straße 5, Dieter Kosslicks Büro im vierten Stock. Der Festivalchef sucht seinen Berlinale-Schal, wegen des Fotos. Der Schal ist bunt gestreift, nicht mehr knallrot wie früher.

Herr Kosslick, Rot soll bei Gala-Teppichen nicht mehr so angesagt sein. Wechselt die Berlinale die Farbe?
Nichts da, wir werden röter denn je: Sogar die Autos fahren jetzt über eine rot ausgelegte Strecke vor den Berlinale-Palast, weil die Straße im Winter meist schmutzig ist. Die Teile werden zusammengesteckt, wie Legosteine. Und solange die Schwaben die zweitgröschte Minderheit in Berlin sind (Kosslick ist Schwabe/ d. Red.), wird die Straße geputzt sein. Vor ein paar Tagen war ich in der Baden-Württembergischen Landesvertretung als Gastredner und wurde gefragt, was denn unsere neue Reihe „Native – Eine Reise durch das indigene Kino“ solle.

Sie könnten da ja mal Schwäbisches zeigen...
... die Filme von dort spielten in meiner Kindheit übrigens eine wichtige Rolle. Zum Beispiel „Der Förster vom Silberwald“, Theo Lingen trifft Peter Weck, das hab ich als Sechsjähriger im Bali in Ispringen gesehen. Als ich später in München studierte, sah ich bei einer Schwarzwald-Retro im Arri diese Filme wieder, fünf Minuten von meiner Wohnung entfernt. Super.

Mal im Ernst, warum indigene Filme?
Weil die Reihe gut zu uns passt. Ich war mit Maryanne Redpath, der Leiterin unserer Generation-Reihe, in Sydney, wir saßen dort mit Aborigines-Filmemacherinnen und Filmemachern beim Paulaner. Da ich Vegetarier bin, haben sie extra eine Krokodil-Pizza für mich gebacken (lacht). Hat nicht schlecht geschmeckt, obwohl Krokodile für mich doch irgendwie Tiere sind. Die Aborigines mochten unsere Slogans „Accept Diversity“ und „Towards Tolerance“. Das brachte uns auf die Idee, eine Filmreihe zusammenzustellen, von den Inuit über die Native Americans bis zu den Aborigines. In meinem ersten Berlinale-Jahr 2002 lief im Wettbewerb „Beneath Clouds“ von dem jungen Aborigine Ivan Sen. Er bekam einen Silbernen Bären, war aber bei der Preisverleihung spurlos verschwunden. Weil er sofort nach der Vorführung einen Walk about unternommen hatte, auf den Spuren seines Urgroßvaters – im Schwarzwald!

2013 ist das Festival fast komplett digital. Weniger als zehn Prozent des Programms werden auf Zelluloid präsentiert, außer der Retro. Was heißt das für die Logistik?
Es hat enorme Auswirkungen. Unser Filmlager heißt jetzt Film Office, denn Filmkopien gibt es praktisch nicht mehr. Alles geht schneller, es wird aber auch komplizierter. Vor ein paar Jahren kamen die Vertreter aus Hollywood oder London noch mit der physischen Kopie, die sie mit Handschellen an sich gekettet hatten, aus Furcht vor Piraterie. Während wir sichteten, saßen sie vor der Tür und passten auf. Das hat sich verschärft: Jetzt schalten die Studios die Filme für ein bestimmtes Zeitfenster frei. Vor zwölf Jahren hatten wir Filme oft Monate lang im Regal liegen, konnten sie uns zwei, drei Mal anschauen. Das ist heute kaum noch möglich. Vorbei ist auch die Zwischenphase, in der wir Filme noch auf Festplatten zu den Kinos fuhren.

Die Produktionen werden vom Filmoffice in die Kinos gebeamt?

Es hat enorme Investitionen erfordert, denn wir bespielen fast 50 Kinosäle. Und zwar mit einer Vielzahl von Formaten. Wir brauchen also spezielles Equipment, das uns teilweise unsere Sponsoren zur Verfügung stellen, die Firmen Barco und Dolby. Früher hatten wir in den Hauptkinos zwei Projektoren. Fiel einer aus, kam der andere zum Einsatz. Wenn eine digitale Kopie abstürzt, ist Schluss, das ist uns zum Glück nur ein einziges Mal passiert, 2009 mit Stephen Frears’ „Chéri“ mit Michelle Pfeiffer im Friedrichstadtpalast. Seither gab es keinerlei Pannen und am 15. Februar kommt die allerneueste Technik zum Einsatz wenn wir die Weltpremiere des 3-D-Animationsfilm „The Crooks“ im Berlinale-Palast präsentieren – eine Dreamworks-Produktion.

Haben sich durch die Digitalisierung auch die Filme selbst verändert?
Auch sie sind schneller geworden, hochprofessionell, aber mit leichterem Gepäck. Da hat sich eine Generation von Ballst befreit, von schwerfälligen Produktionssystemen, auch von finanziellem Ballast. Es gibt mehr Independent-Filme, nicht nur US-Indies, auch osteuropäische Produktionen bis nach Kasachstan in Eurasien. Unser Motto des Kulinarischen Kinos, „Vom Garten auf die Gabel“ - also vom Acker auf den Teller – passt zum gesamten Festival. Nehmen Sie nur Gus van Sants „Promised Land“ über die umweltschädliche Fracking-Technologie, die ist in Deutschland gerade ein Riesenthema. Oder diese schnellen, lakonischen Griechenland-Filme, die vor zwei Jahren wie aus dem Nichts kamen, obwohl dort kaum noch Filmförderung existiert: Athina Rachel Tsangari, die Regisseurin von „Attenberg“, ist jetzt bei uns in der Jury. Und nicht nur jüngere Regisseure arbeiten so, auch ältere Indie-Filmer wie Richard Linklater, der außer Konkurrenz „Before Midnight" mit Julie Delpy und Ethan Hawke zeigt. Den hat Tsangari übrigens mitproduziert.

Es gibt auffällig viel aus Osteuropa.
Dort scheint die Digitalisierung vieles zu ermöglichen. Danis Tanovic hat für „An Episode in the Life of an Iron Picker“ mit einer kleinen Digitalkamera eine Roma-Familie aufgesucht, ist sehr nah bei ihnen, lebt mit ihnen. Man erstarrt, wenn man sieht, wie schlecht es Menschen nur zwei bis drei Flugstunden von hier entfernt gehen kann. Es sind dieselben, die uns an der Ampel die Autoscheiben putzen und für die wir Mahnmale im Tiergarten errichten. Oder „In the Name of“ von Malgoska Szumowska, ein knallharter Film über Homosexualität in der katholischen Kirche in Polen, mit dem wir den Wettbewerb eröffnen. Homophobie ist in ganz Osteuropa ein großes Problem. Ein Film wie ein hochaktueller Kommentar, auch wegen der Missbrauchsdebatte und den Kirchenaustritten bei uns.

Deneuve, Binoche, Huppert, Nina Hoss: ein Festival der Frauen

Eine Frau fährt Zigaretten holen und kehrt so schnell nicht mehr zurück. Catherine Deneuve im französischen Wettbewerbsbeitrag "Elle s'en va".
Eine Frau fährt Zigaretten holen und kehrt so schnell nicht mehr zurück. Catherine Deneuve im französischen Wettbewerbsbeitrag "Elle s'en va".

© Berlinale

Also wieder eine politische Berlinale?
In vielen Beiträgen geht es um das Eingeschlossensein und die Schwierigkeit, sich aus starren Systemen zu befreien. Etwa der Wiederverfilmung von Diderots Aufklärungsroman „Die Nonne“ mit Isabelle Huppert oder in „Camille Claudel“ mit Juliette Binoche: Die Bildhauerin war jahrzehntelang in der Psychiatrie eingesperrt. Als dritte Diva aus Frankreich kommt Catherine Deneuve in „Elle s’en va“. Auch ihre Figur fühlt sich eingesperrt in ihrer bürgerlichen Existenz, aber sie fährt Zigaretten holen und kehrt so schnell nicht mehr zurück. „Gloria“ aus Chile bricht ebenfalls aus, geht in die Disco – ein vergnüglicher Film. Das Leben ist hart, aber unfair und macht trotzdem Spaß: Wir bieten auch leichtere Kost.

Das klingt nach einem Festival der Frauen.
Tatsächlich gibt es viele Protagonistinnen in diesem Jahr. Vielleicht lässt sich mit Frauengeschichten treffender von den Totalschäden in moralisch verrotteten Gesellschaften erzählen. Wir haben auch drei Regisseurinnen im Wettbewerb und zahlreiche in den Nebenreihen, im Panorama stammen 20 von 52 Beiträgen von Frauen und im Forum ein Drittel.

Erneut gibt es das Oscar-Problem. Tarantinos „Django“, „Flight“, „Lincoln“, ständig laufen US-Stars hier am Potsdamer Platz über den Roten Teppich, aber nicht auf der Berlinale. Ärgert Sie das?
Diesmal sind im Januar besonders viele tolle US-Filme hier gestartet, diese Woche kommt noch Kathryn Bigelow mit „Zero Dark Thirty“. Hätten wir alles sehr gerne gezeigt. Wir können es nicht ändern, die brauchen wegen der Nominierungen frühere Auslandsstarts, wir leben seit fünf Jahren mit dem Problem des frühen Oscar-Termins. Es nutzt nichts, sich deshalb zu grämen, wir versuchen, trotzdem ein gutes Programm zu machen. Im Friedrichstadtpalast läuft die All-Star-Musical-Verfilmung „Les Misérables“, wir zeigen dort Michael Winterbottoms „The Look of Love“, das ist Sex, Drugs and Rock’n’Roll mit Steve Coogan. Es kommen auch jede Menge Stars, darunter Matt Damon, Shia LaBeouf, Anne Hathaway, Rupert Grint, Jeremy Irons, Nicolas Cage, Emma Stone, Amanda Seyfried, Jude Law. Und mit Jane Campions großartiger Fernsehserie „Top of the Lake“ zeigen wir erneut eine Qualitäts-TV-Serie. Wir hoffen dass Holly Hunter, Peter Mulligan und Elizabeth Moss anreisen. Schade an der Oscar-Sache finde ich „Hitchcock“. Das Biopic mit Anthony Hopkins hätte sehr gut gepasst, denn 1951 lief  „Rebecca“ auf der Berlinale. Hat leider nicht geklappt.

Eine kleine Sensation ist es, dass ein Film von Jafar Panahi im Wettbewerb läuft. Der iranische Regisseur ist rechtskräftig verurteilt, hat Berufs- und Reiseverbot. Wie geht es den Filmemachern im Iran?
Der Film ist ganz normal über einen belgischen Weltvertrieb zu uns gekommen, wir haben ihn ausgewählt, die iranische Regierung sowie den Botschafter informiert und bekannt gegeben, dass wir ihn zeigen. Bisher ist dem Regisseur nichts passiert – ein gutes Zeichen. Natürlich haben wir Jafar Panahi und seinen Ko-Regisseur Kamboziya Partovi eingeladen und gebeten, sie reisen zu lassen. Bisher gibt es keine Reaktion auf unsere Briefe, wir werden es weiter versuchen und hoffen das Beste. Wenn ich Präsident Ahmadinedschad wäre, ich würde ihn reisen lassen. Das wäre dann eine große Sensation.

Mit Thomas Arslans „Gold“ findet sich nur eine rein deutsche Produktion im Wettbewerb, so wenig wie nie seit Ihrem Amtsantritt. Wie kommt’s?
Das stimmt nicht, mit der Koproduktion „Layla Fourie“ von Pia Marais sind zwei Deutsche im Wettbewerb, genau wie 2009. Gut, beide Filme spielen nicht in Deutschland, der eine in Südafrika, der andere in Amerika.

Berlinale-Stammgast Oskar Roehler findet sich nicht im Programm, auch nicht „Natascha Kampusch“? Wollten Sie diese Filme nicht, oder wollten die nicht aufs Festival?
Roehlers Film „Quellen des Lebens“ startet während der Berlinale. „Natascha Kampusch“ ist nicht fertig geworden.

Das glaube ich nicht.
Als wir sichteten, war er nicht fertig, ich habe ihn nicht gesehen, glauben Sie mir.

Der Ehrenbär geht in diesem Jahr an den „Shoah“-Regisseur Claude Lanzmann. Wegen 80 Jahre 1933?
Dafür gibt es viele Gründe: „Shoah“ ist ein Meilenstein der Filmgeschichte, die Restaurierung von Lanzmanns Filmen ist abgeschlossen, wir zeigen ja sein Gesamtwerk. Und wir hatten gerade 50 Jahre Elysee-Vertrag. Es ist der erste Ehrenbär, der an einen reinen Dokumentaristen geht, das passt zum Programm. Und wir sind eine Generation weiter, die jüngeren Leute kennen „Shoah“ als den vielleicht wichtigsten Holocaust-Film noch gar nicht. Als ich Lanzmann beim Mittagessen in Paris die Ehrung antrug, hatte dieser strenge und starke Mann Tränen in den Augen. Das hat wiederum mich so gerührt, dass ich in dem Lokal, in dem es nur Fleisch gab, beinahe ein Steak gegessen hätte.

A propos: Man liest, Sie haben Vitamin-B-12-Mangel, weil es Ihnen als vegetarischer Festivalchef an Fleisch und an Licht fehlt.

Ich habe mir meine Spritze schon geben lassen, keine Sorge. Sie macht leicht und fit, es kann losgehen.

– Das Gespräch führte Christiane Peitz.

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