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Manila Film

© Berlinale

Berlinale-Forum: Gangs of Manila

Jugendgewalt - ein großes Thema, auch im Forum. Jim Libiran hat für „Tribe“ kriminelle Kids gecastet und erzählt in seinem Film die Geschichte einer Selbstbefreiung

Man muss sich das vorstellen. „Tribe“, dieses Nachtstück aus den Slums von Manila, funktioniert etwa so, wie wenn jemand das Video von den prügelnden Münchner U-Bahn-Kriminellen einem Spielfilm zugrunde gelegt hätte, mit den Tätern als ihren eigenen Darstellern. In den Slums namens Tondo gibt es über 100 Jugendbanden, die sich bekriegen. „Tribe“ nimmt den Zuschauer mitten hinein in eine grausame Vendetta, bei der schon Kinder töten und die Polizei nichts ausrichten kann. Die Gangsterrapper spielen sich selbst.

Auch in „Tirador – Slingshot“, einem weiteren der fünf Forums-Beiträge aus den Philippinen, gibt es kein Entkommen aus dem verfallenen Mietshaus mitten in Manila. Lärm, Hitze, Drogen, krumme Geschäfte: Regisseur Brillante Mendoza stürzt sich in den Alltag der Bettelarmen. In beiden Filmen ist die DV-Kamera embedded in den Überlebenskrieg. Sie lauert nervös in den Gassen, schönt nichts, weiß keinen Ausweg, schafft keine Distanz. „Knallhart“, nur viel härter, „City of God“ auf philippinisch. „Tribe“-Regisseur Jim Libiran ist in Tondo aufgewachsen, als Mittelstandskind. Auch Mittelstandskinder nehmen am Bandenleben teil, man sieht das im Film. Libiran wurde Journalist, machte zehn Jahre lang Zeitung, ging zum philippinischen Fernsehen, leitete dort Abteilungen und berichtete als Reporter aus Afghanistan und vom IrakKrieg. Gleichzeitig ist der 41-Jährige Dichter, Essayist, Soziologe, Gewerkschafter und Politaktivist. 2001 drehte er eine TV-Doku über Tondo, war von den Rappern fasziniert und kam später für Spielfilm-Recherchen wieder. Mit „Tribe“ machte er letztes Jahr seinen Master an der Filmhochschule.

Geld für Schauspieler hatte Libiran nicht. Also hängte er Plakate in Tondo auf: Wer möchte Filmstar werden? 52 Leute kamen zum Casting, von sechs verschiedenen Banden. „Ich Dummkopf wunderte mich, warum es nicht mehr waren“, erinnert sich Libiran. Bis die Jungs ihm sagten, dass die anderen Gangs gar nicht kommen konnten, weil sie feindliches Gebiet hätten betreten müssen.

Jim Libiran veranstaltete einen Workshop mit allen 52 Bewerbern. Am ersten Tag kamen sie bis an die Zähne bewaffnet. Die Pistolen, Gewehre und Messer mussten auf den Tisch; weil Libiran kein Geld für Requisiten hatte, wurden sie später im Film verwendet. „Schließt eure Augen“, forderte er die Workshop-Teilnehmer auf. Aber ein Gangster schließt nicht die Augen, wenn er unbewaffnet neben seinem Feind sitzt. Über die Dreharbeiten wurden die Feinde zu Freunden. Vier der 52 spielen im Film mit.

Jugendgewalt. Das Thema macht Schlagzeilen und wird auch anderswo von Politikern instrumentalisiert: In „Tirador“ ist Kommunalwahlkampf, die Kandidaten versprechen Kampagnen gegen die Kriminalität. Kinder, die töten: Das Kino, schon immer im Bann der Gewalt, schlägt sich mit diesem zutiefst verstörenden Phänomen herum, kommt nicht zurande damit, probiert rohe, dokumentarische Formen oder Underground aus, meist heftig und exzessiv. Sex, Drugs & Violence: Ist das die globalisierte Jugendkultur der Ghettos, Slums und Favelas? Die Ghettokids-Filme mit ihrer mal hippen, meist harten Ästhetik sind längst ein eigenes Genre, sie entstehen überall auf der Welt.

Auch auf der Berlinale ist das Thema virulent, quer durch die Reihen: „War Child“ und „City of Men“, die Fortsetzung des brasilianischen Favela-Films „City of God“ laufen in der Reihe Generation, „Drifter“ und „Teenage Angst“ in der Perspektive Deutsches Kino, „Feuerherz“, die umstrittene Story von der Kindersoldatin aus Eritrea, im Wettbewerb. In „Chiko“ (Panorama) spielt Moritz Bleibtreu einen Hamburger Drogenkiez-König, „Le Ring“ erzählt von einer kanadischen Jugend im kriminellen Milieu, und gleich drei der philippinischen Forums-Filme zeigen stehlende Kids. Der Ruhigste davon: „Balikbayan Box“. Das Leben ist ein langer, schmutziger Fluss in der Provinz, die Kinder klauen Gemüse, ein Huhn oder Münzen im DVD-Wellblech-„Kino“. Der Mundraub macht sie zu Mördern – oder Opfern. Ein elegischer Film, der die offene Gewalt ausspart, um zu offenbaren, welche Gewalt Hunger bedeutet. Die Totenstille am Ende schreit lauter als jeder Exzess.

Wie hält Jim Libiran es mit der Gewalt? Der „Tribe“-Regisseur ist ein lebenslustiger Mensch, mit einem rauen Lachen. Nein, er spekuliert nicht auf sie. Aber er nimmt ihre Faszination in Kauf, wegen der Botschaft: Seht her, das nimmt kein gutes Ende. Auch wenn seine Bilder dem Thrill immer wieder erliegen, hat Libiran selbst eine klare Haltung zu den Taten seiner Protagonisten. Im Film sterben sie. „Im Leben“, sagt der Regisseur, „stehen sie nach dem Abspann auf der Bühne und rappen.“ Und erzählen dem jungen Publikum, dass Überleben auch anders geht als mit Brutalität.

Libiran kann Tondo-Talk, die Sprache derer, die keine Bildung haben, keine Zukunft, nur die Poesie ihrer Raps. „Das war der Deal: Du willst ein Star werden? Okay, ich sorge dafür. Aber du musst mit deinem Feind kooperieren und ich bin der Gangleader. Es ist harte, dreckige Arbeit. Du musst gehorchen, sonst bist du raus.“

Ich treffe Jim Libiran auf dem Filmfest im südkoreanischen Pusan, hier feiert „Tribe“ seine internationale Premiere. Am Abend zuvor hatten die Türsteher ihm den Einlass zum Festival-Dinner verwehrt, obwohl sein Film im Wettbewerb läuft. Die Philippinen sind die Underdogs von Korea. Und nicht nur dort. „Wir sind nicht beliebt in der Welt“, sagt Libiran. Er verstehe das schon, denn „wir machen ja tatsächlich eure Jobs. In Amerika sind fast alle Kindermädchen Filippinos, in Hongkong auch. Wir könnten ja alle eure Kinder entführen.“

Jim Libiran lacht wieder sein unglaubliches Lachen. Und nennt „Tribe“ einen Zombie-Film. Die Kids sind lebende Tote, fast immer herrscht tiefe Nacht. Und es ist ein Kind, das gleichsam den Zuschauer entführt. Der zehnjährige Ebet zerrt einenförmlich zu den brutalen Unterwerfungs- und Initiationsriten seiner Gang. Der einzige Lichtblick ist der HipHop, die Waffe der Wörter mitten im Strudel der Rache. Aus dem Off sagt Ebet, dass in Tondo jeder ein Gott sein kann, auch ein Kind.

Jim Libiran hat dieses Selbstbewusstsein von der kriminellen Energie abzukoppeln versucht, auch in Erinnerung an engagierte Sozialprojekte, mit denen Jugendliche zum Verlassen ihrer Banden bewegt wurden – was einige nicht überlebten. Der Verantwortung für seine Darsteller war er sich bewusst. „Es sind meine Kids geworden. Aber ich sagte ihnen: Bleibt in euren Banden, werdet Bosse, reformiert die Gang von innen.“ Das Role-Model-Prinzip. Weltweit macht es Schule, nicht nur in Rütli, Neukölln. Nach dem simplen Grundsatz, dass Jugendliche auf Ihresgleichen eher hören als auf wohlmeinende Autoritäten.

Heute mischen sich die Tondo-Kids öffentlich ein, sie haben Darstellerpreise gewonnen und diskutieren ähnlich wie die Rütli-Schüler in Talkshows mit, reden mit Bischöfen und Bürgermeistern oder werden als Rapstars von den Mädchen angehimmelt. Bewunderung verpflichtet. Und zivilisiert. Dabei können sich philippinische Jugendliche den Film im Kino gar nicht anschauen, „Tribe“ hat keine Jugendfreigabe bekommen. Libiran versteht das nicht: „Ein Zehnjähriger kann Bandenmitglied werden, aber er darf die Gangs nicht auf der Leinwand sehen? Das ist doch verlogen.“ Also ist er mit dem Team durch die Schulen getingelt und sucht den Dialog via Internet. Auf Youtube hatte der Trailer 300 000 Klicks.

Filme als Mittel gegen Jugendgewalt? Die Wirklichkeit ist so finster wie „Tribe“. Aber ein junges, im Aufbruch begriffenes Kino für ein junges, wissbegieriges Publikum kann dazu beitragen, dass diese Wirklichkeit sich selbst aus dem Ghetto befreit. Die Erwachsenen sind überfordert; angesichts der Realitäten von Manila, Rio oder Neukölln fühlen wir uns alle wie hilflose Kinder – auch deshalb hat Jim Libiran einen Zehnjährigen zum Protagonisten gemacht.

Darüber freut sich der Regisseur: Dass die Kids begonnen haben, sich öffentlich zu artikulieren. Im HipHop, in Blogs, auf Youtube. Dort taugen die Filme zur Guerilla-Aktion, zum Bilderrap, zum Selbstgespräch. Vielleicht gehören sie ja weniger auf die Leinwand als ins Netz, als Download der eigenen Existenz. Es ist dieser Spiegeleffekt, dessen Magie sich in die Bilder dieser atemlosen, schmutzigen, oft unbeholfenen Filme schmuggelt. Eine Flaschenpost in einem Meer der Gewalt.

09.02., 15 Uhr (Arsenal), 10.2., 20 Uhr (Colosseum), 11.2., 22.30 Uhr (Cinestar 8)

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