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Doppelgesichtig. Theo Stevenson als Jake.

© Blue Shadows Film

Berlinale Generation 14Plus: Auf der dunklen Seite

Ein einsamer junger Mann, der nicht weiß, wie er den Kampf gegen sein eigenes Verlangen gewinnen soll. In „Butterfly Kisses“ wagt sich Regisseur Rafael Kapelinski an das Thema Pädophilie.

Wenn Jake den Müll runterbringt, macht er einen Umweg. Hoch in den 19. Stock. Von dort aus schaut er aus dem Flurfenster in die Wohnung gegenüber Dort lebt die Neue. Zara heißt sie, sehr cool, ziemlich hübsch. Jake hat sie mit ihrer kleinen Schwester im Hof gesehen. Jake ist ein sanfter Junge. Er ist einer, der nur zuhört, wenn seine Freunde Kyle und Jarred prahlen, dass sie soundso befummelt, mit soundso geschlafen hätten.

Einer, der am Rand bleibt, wenn sich die Jungs aus seiner Klasse Hardcore-Pornos reinziehen. Und einer, der ab und zu auf die kleine Lilly aufpasst, ihr aus „Der Rattenfänger von Hameln“ vorliest, mit ihr rumtobt, sie ins Bett bringt.

Aber da ist einem Jake längst schon unheimlich geworden, denn als Zuschauer weiß man inzwischen von seinem sexuellen Begehren – und das ist etwas, was niemand wissen soll und das auch nicht sein darf.

Über „Butterfly Kisses“ zu sprechen, ohne Pädophilie zu erwähnen, ist fast unmöglich. Spoiler hin oder her. Schließlich kann es dabei unmöglich um Spannung gehen. Der 15-jährige Jake (Theo Stevenson) ist nicht Opfer, sondern potenzieller Täter. Das Thema ist so ungeheuerlich, dass man schnell übersehen kann, was „Butterfly Kisses“, der im Rahmen von Generation 14plus läuft, eigentlich erzählen will. „Für mich geht es im Film um diesen Moment in unserem Leben, an dem das Dunkle Einzug hält“, erklärt Regisseur Rafael Kapelinski. „Plötzlich realisiert man, dass diese Welt ein sehr grausamer Ort sein kann.“

Eine Sozialbausiedlung irgendwo im Süden Londons

Es ist die Vertreibung aus dem kindlichen Paradies, aus einem Zustand der Unschuld. Für Kapelinski selbst, 1970 im polnischen Torún geboren, in London lebend, wird dieser Moment durch den Selbstmord seiner Grundschullehrerin markiert, deren lebloser Körper aus einem Fluss gezogen wurde. Ein Anblick, der sich eingebrannt und Spuren hinterlassen hat. Jake sei zwar der Protagonist des Films, so Kapelinski, aber der eigentliche Held sei Kyle, Jakes Kumpel (Liam Whiting), der rückblickend von solch einem Wendepunkt erzählt.

„Butterfly Kisses“ ist nicht auf Sensation oder Tabubruch aus. Voller Respekt ist der Blick auf die jungen Männer, nichts wird beschönigt. Wer wie Jake und seine Freunde in dieser Sozialbausiedlung irgendwo im Süden Londons lebt, hat nicht die beste Startposition ins Leben. Wenn die Jungs nicht in der Schule sind, hängen sie ab, kiffen, spielen Billard. Das füllt Stunden, ist aber nicht erfüllend. Die Eltern sind abwesend und haben mit sich selbst zu tun.

Setting und Ästhetik erinnern zuweilen an den sozialen Realismus der britischen „Kitchen Sink“-Dramen. Zugleich hat der Film, gedreht mit Laien- und Profidarstellern, aber auch etwas von der Distanziertheit, die osteuropäischen Filmen mitunter zu eigen ist. Betont wird dies durch die kontrastreichen Schwarz- Weiß-Bilder, auf die der Regisseur bereits in seinen Kurzfilmen, etwa in der Liebesgeschichte „Emily cries“ (2006) gesetzt hat.

Keine Ursachenforschung, kein Schutz, keine Anklage

„Ich glaube fest daran, dass alles im Leben zwei Seiten hat, und das Schwarz- Weiß erlaubt mir, diese Polarität zu verdeutlichen.“ Unnachgiebig wirken die Bilder in ihrer Schärfe, zugleich spiegeln sie die Zerrissenheit Jakes wider, der zunehmend in die Isolation driftet und so immer unerreichbarer wird. „Nichts ist schlimmer, als in der Gruppe allein zu sein“, weiß der Regisseur. Jarred und Kyle sind für Jake zwar gute Kumpel, auch wenn sie sich ab und zu schlechte Witze erlauben, darunter einen, der Jake im übertragenen Sinne das Genick brechen wird. Doch öffnen kann er sich ich ihnen gegenüber nicht.

Mit 15, 16 kann man sich – zumindest in dieser Jungsclique – keine Schwäche erlauben. Und wer hat schon Verständnis für jemanden, der sich sexuell für Kinder interessiert? Wäre das im schicken Londoner Stadtteil Hampstead anders?

Er wollte schon immer Geschichten erzählen, sagt Rafael Kapelinski, und obwohl er schon als Teenager wusste, dass er Filme machen möchte, stieg er zunächst ins Finanzwesen ein, arbeitete für Banken in New York, London und Zürich, bevor er zum polnischen Filmfestival Cameraimage wechselte und ein Filmstudium in Warschau und London begann.

Sein Spielfilmdebüt „Butterfly Kisses“ erklärt nicht, betreibt keine Ursachenforschung, nimmt nicht in Schutz, klagt nicht an. Der Film erzählt von einem sehr einsamen jungen Mann, der nicht weiß, wie er seinen Kampf gegen sein eigenes Verlangen gewinnen soll, und von dessen Kumpel, der damit klarkommen muss, dass er einen Freund hatte, der ihm eigentlich fremd war und der etwas Furchtbares getan hat.

16.2., 15.30 Uhr (Zoo Palast 1)

Kirsten Taylor

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