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Swinton

© dpa

Berlinale-Jury: Wer ist Tilda Swinton?

Ihr genügt nur eine Szene, um berühmt zu werden. Sie ist die Königin des Independent-Kinos. Und in Hollywood ein Star. Nun wird sie die Präsidentin der Berlinale-Jury.

WARUM SITZT TILDA SWINTON IN DER BERLINALE-JURY?

Es ist für sie keine Premiere. Tilda Swinton war schon einmal in der Berlinale-Jury, damals, 1988, als Zhang Yimou mit „Das Rote Kornfeld“ gewann. Und nicht nur das: Insgesamt ist sie 14 Mal auf der Berlinale gewesen, ihr letzter großer Auftritt war im vergangenen Jahr, als sie als „Julia“ im Wettbewerb zu sehen war und gleichzeitig im Panorama den Erinnerungsfilm für Derek Jarman vorstellte. Da stand sie, 1,79 Meter groß, kurz geschnittenes, flammend rotes Haar, wie immer ungeschminkt und edel blass, im Anzug mitten im Berlinale-Trubel und wirkte wie ein Wesen von einem anderen Stern. Ja, es gibt viele schöne, große, blonde Schauspielerinnen, Nicole Kidman, Cate Blanchett, und wo immer sie auftauchen, blitzen die Kameras. Doch Tilda Swinton ist anders. Mehr.

Warum also noch einmal Tilda Swinton? Weil sie wie keine andere ein Festival schmückt, das nicht nur die Stars und Hollywood-Großproduktionen, die großen Namen und die fetten Soundtracks anzieht, sondern das engagierte Kino, das politische, das unabhängige und unbequeme. Also ein Kino, wie es Tilda Swinton schätzt und für das sie wie keine andere steht. Nicht umsonst hat sie im vergangenen Sommer im schottischen Nairn ein eigenes Filmfestival gegründet, in einem alten Ballsaal, in dem einst The Who und Pink Floyd auftraten. Als Dieter Kosslick sie anrief, um sie als Jurypräsidentin zu gewinnen, musste er nicht lange bitten: Ihre Antwort war: „This is the right time.“ Und dann hatte sie da noch ein paar Vorschläge zur Jurybesetzung ...

MIT WELCHEN ROLLEN IST SIE BERÜHMT GEWORDEN?

Es sind gar nicht mal so sehr Rollen, oft reicht nur eine einzige Szene. Wie jene erste Szene, mit der Tilda Swinton 1986 der Filmwelt auffiel, in Derek Jarmans „Caravaggio“. Da malt der Künstler ein Straßenmädchen mit schmutzverschmiertem Gesicht, und dann nimmt es sein Kopftuch ab, und eine Welle roten Haares stürzt hervor. Die Caravaggio-Madonna ist geboren, und die Königin des Kinos, die Tilda Swinton seitdem oft verkörpert hat, als Königin Isabella in Jarmans „Edward II.“, in Sally Potters Verfilmung des Virginia-Woolf-Romans „Orlando“, wo sie durch die Jahrhunderte auch das Geschlecht wechselt, oder zuletzt, ein völlig verschenkter Auftritt, aber nur für ihn lohnte es den Kinobesuch, als böse Elfenkönigin in den „Chroniken von Narnia“.

Oder nehmen wir die Eröffnungsszene aus Erick Zoncas „Julia“, dem Berlinale- Wettbewerbsbeitrag aus dem vergangenen Jahr: Julia, die Alkoholikerin, die Lebens-Chaotin, hat auf der Freitags-Feierabendparty die Männer am Schlips durch die Bar geschleppt, hat mit einem von ihnen, an sein Gesicht erinnert man sich schon nicht mehr, die Nacht im Auto verbracht und wacht auf, verknittert, verkatert. Er setzt sie höchst ungalant vor die Tür und sie stöckelt auf hohen Absätzen über den Parkplatz, die Sonne viel zu hell, der Mund zu trocken, und das letzte bisschen Würde, wie bewahrt man es sich in so einer Situation.

Oder Karen Crowdon, die Anwältin aus „Michael Clayton“, für deren Darstellung sie 2008 den Oscar für die beste Nebenrolle bekam: Eine unsichere Karrierefrau, verkrampft, misstrauisch, spielt sie ihr intrigantes Spiel, quält sich nachts auf dem Laufband noch durch Akten und steht dann, vor einem wichtigen Gesprächstermin, im Badezimmer, die Angstschweißflecken auf der Synthetik-Bluse, eine hässliche Fettrolle um die Hüfte, und im Spiegel das bleiche Erschrecken vor dem eigenen Gesicht.

Und noch eine letzte Rolle, ganz aktuell, und ganz kurz nur. Im gerade angelaufenen, hoch oscarnominierten Rührstück „Der seltsame Fall des Benjamin Button“ spielt Tilda Swinton eine verhärmte Diplomatengattin, die erste richtige Liebe des kurioserweise nicht alternden, sondern sich verjüngenden Benjamin. Eine lange Nacht in einem schäbigen Hotel in Murmansk, die zwei sitzen am Küchentisch und sie klärt ihn darüber auf, wie lange man den Tee richtig ziehen lassen soll: die wohl originellste Initiation der Filmgeschichte. Eine lange Nacht in fünf elektrisierenden Minuten. Da kann der Film in den folgenden zwei Stunden noch so sehr dröhnen, so lebendig wie in dieser kurzen Küchendebatte wird er nie mehr.

WAS MUSS MAN NICHT ÜBER TILDA SWINTON WISSEN?

Dass sie im britischen Nobelinternat West Heath die Klassenkameradin einer gewissen Diana Spencer war. Dass sie aus uraltem schottischen Hochadel stammt und ihre Familie bis ins Jahr 780 zurückverfolgen kann. Dass ihr Vater Sir John Swinton of Kimmerghame General der Scotts Guards war. Dass sie mit dem 68-jährigen Künstler John Byrne verheiratet ist, der für sie Frau und Tochter verlassen hat und nun auf dem Familienwohnsitz in den schottischen Highlands die beiden Zwillingssöhne Xavier und Honor großzieht. Dass Tilda selbst seit drei Jahren mit dem 15 Jahre jüngeren deutsch -neuseeländischen Maler Sandro Kopp liiert ist, den sie bei den Dreharbeiten zu „Die Chroniken von Narnia“ kennenlernte und der sie seitdem auf ihren Promo-Touren begleitet. Dass sie über dieses Arrangement gesagt hat: „Es braucht einige ungewöhnliche Männer, damit eine Situation wie diese klappt.“ Dass sie im vergangenen Jahr, als sie – sehr zu Recht – für ihre Rolle in „Michael Clayton“ den Oscar bekam, bei der Preisverleihung ein Blackout hatte. Und dass sie niemals selbst Kleider einkaufen muss, weil ihre Designer-Freunde ihr alles schenken.

All das will man über Tilda Swinton nicht wissen. Weil man so etwas auch über sich selbst niemals lesen wollte. Weil Tilda Swinton selbst solche Berichterstattung cool unterläuft. Vor allem, weil es einfach die falsche Art von Information ist für eine Frau wie Tilda Swinton. Definitiv das falsche Niveau. Und sie selbst einmal süffisant bemerkt hat: „Niemand, mit dem ich meine Zeit verbringe, stellt Fragen nach meinem Privatleben.“

WAS ERWARTET SIE AUF DER BERLINALE?

Jurymitglieder, erst recht Jurypräsidenten, müssen natürlich bis zur letzten Minute schweigen wie ein Grab über Gefallen und Missfallen im Kino. Vorzeitig einen Wettbewerbsfilm verlassen, vernehmbar einschlafen, abfällig schnauben, gar nicht erst auftauchen oder am Schluss begeistert applaudieren, all das geht natürlich nicht. Das Urteil fällt in den Beratungen vor der Preisverleihung. Bis dahin gilt: Schweigen ist Gold.

Was aber erlaubt ist, das ist: Spekulieren. Je nach Juryzusammensetzung. Welcher Film wird wem gefallen? Dass im vergangenen Jahr, als der Nestor des politischen Films Costa-Gavras, der in diesem Jahr den Berlinale-Abschlussfilm „Eden is West“ liefert, als Präsident der Jury vorstand, die zwei Politfilme des Wettbewerbs, José Padilhas „Tropa de Elite“ und Erroll Morris’ „Standard Operating Procedure“, bei der Preisverleihung abräumen würden, war eigentlich keine Überraschung – auch wenn es cineastisch wertvollere Filme gegeben hatte.

Also: Was könnte der Jurypräsidentin Tilda Swinton gefallen? Immerhin: An starken Frauenrollen mangelt es im diesjährigen Wettbewerb nicht. Vielleicht Stephen Frears’ Colette-Verfilmung „Cheri“ mit Michelle Pfeiffer? Ein Kostümdrama um eine unabhängige Frau, die einen wesentlich jüngeren Geliebten hat – ebenso übrigens wie die Hauptfigur in Andrzej Wajdas „Tatarak“, der im Polen der Fünfzigerjahre spielt. Oder Richard Loncraines „The One and Only“, ebenfalls eine Fünfzigerjahre-Emanzipationsgeschichte mit Renée Zellweger, auch das eine starke Frauenrolle. Die ungewöhnliche Frauenfreundschaft zwischen einer Soldatin und einer nigerianischen Prostituierten in Annette K. Olesens „Lille Soldat“? Oder vielleicht der britisch-rumänische Beitrag „Katalin Varga“ von Peter Strickland über eine Frau, die mit ihrem elfjährigen Sohn durch die Lande zieht – erinnert das nicht entfernt an „Julia“?

Vielleicht aber rühren Tilda Swinton auch alte Loyalitäten? Mit der Regisseurin Sally Potter hatte sie damals Ende der Achtzigerjahre ihren wohl erfolgreichsten Film „Orlando“ gedreht – nun ist Potter mit „Rage“, einem Krimi aus der New Yorker Modewelt, im Wettbewerb dabei. Auch Hans-Christian Schmids in Den Haag spielendes Kriegsverbrecher- Drama „Sturm“ könnte der studierten Politik- und Sozialwissenschaftlerin gefallen. Vielleicht begeistert sie sich ja auch für François Ozons phantastischen Fantasyfilm „Ricky“ über einen Säugling, der übernatürliche Fähigkeiten erlangt? Oder sie verliert ihr Herz an den Beitrag aus Uruguay, „Gigante“, in dem ein Supermarkt-Wachmann sich in eine Putzfrau verliebt.

Alles nur Spekulation, wie gesagt. Wie gern wäre man bei den Jury-Diskussionen dabei. Eine Gelegenheit, Tilda Swinton zu erleben, gibt es immerhin: Am 9. Februar um 17 Uhr spricht sie im Rahmen des Talent-Campus im Hebbel am Ufer. Der Titel: „In the Limelight“, im Scheinwerferlicht. Wo Tilda Swinton immer steht. Und niemals ganz hingehört.

Zur Person

LEBEN

Katherine Mathilda Swinton wurde am 5. November 1960 in London geboren. Sie stammt aus einer alten schottischen Adelsfamilie, Vater General, Mutter Australierin, und studierte in Cambridge Sozialwissenschaften und Politik. Sie ist mit dem Künstler John Byrne verheiratet und lebt mit ihren Söhnen in den schottischen Highlands.

FILME

Berühmt wurde sie als Muse von Derek Jarman, in „Caravaggio“ (1986), „Edward II.“ (1991, beste Schauspielerin in Venedig), „Wittgenstein“ und „Blue“ (beide 1993). Weitere Filme: „Orlando“ (1992), „Female Perversions“ (1996), „The Beach“ (2000), „Young Adam“ (2004), „Broken Flowers“ (2005), „Michael Clayton“ (2007, Oscar für die beste Nebenrolle), „Julia“ (2008), „Burn after Reading“ (2008), „Der seltsame Fall des Benjamin Button“ (2009).

Wegbegleiter

DER ENTDECKER

Derek Jarman, britischer Künstler und Filmregisseur, der 1994 im Alter von 52 Jahren an Aids starb. Mit Tilda Swinton drehte er unter anderem „Caravaggio“, „Edward II.“, „Wittgenstein“ und „Blue“. Um seinen Tod zu betrauern, legte sich Tilda Swinton in der Londoner Serpentine Gallery acht Tage lang in einen Glassarg, neben dem das Schild stand „Mathilda Swinton, 1960 - “. Gemeinsam mit dem Regisseur Isaak Julien stellte Swinton im vergangenen Jahr im Panorama der Berlinale den anrührenden Erinnerungsfilm „Derek“ vor, der derzeit auch in den deutschen Kinos läuft.

DER JURYKOLLEGE

Ob Christoph Schlingensief, der wohl interessanteste Kopf in der diesjährigen Berlinale-Jury, Dieter Kosslick von Tilda Swinton empfohlen wurde? Immerhin hat sie mit dem ganz jungen Schlingensief schon 1986 den Film „Egomania“ gedreht, ein apokalyptisches Liebesdrama im ewigen Eis, gedreht auf einer Nordseehallig. Die Freundschaft hat über die Jahre gehalten. Die Jurydiskussionen dürften spannend werden.

DER FILMPARTNER

George Clooney, Sparring-Partner in „Michael Clayton“ und „Burn after Reading“. Bei der Oscar-Verleihung 2008 hat sie ihn in ihrer Dankesrede auf den Arm genommen und seinen früheren Auftritt in „Batman & Robin“ satirisch gewürdigt: „You rock, man“. Und sagt doch auch über ihn: „Das große Glück im Leben ist, dass man mit Menschen zusammenarbeiten kann, die man mag. Es spielt nicht wirklich eine Rolle, welche Figur sie in dem Film verkörpern. Man möchte mit Menschen zusammen Zeit verbringen, mit denen man sich gut versteht.“

Christina Tilmann

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