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Verfolgt: Die junge Fernsehjournalistin Hasret (Algı Eke).

© Berlinale

Berlinale Panorama: „Wir werden alle ein bisschen verrückt“

„Kaygi“, der einzige türkische Festivalfilm, erzählt von einer Frau in der Krise. Ein Treffen mit der Regisseurin Ceylan Özgün Özçelik.

Filme machen wollte sie schon, als sie neun Jahre alt war: Ceylan Özgün Özçelik brauchte allerdings noch 28 Jahre, bis es soweit war. Jetzt ist die studierte Juristin – lieber etwas Ordentliches lernen, fand ihre Familie – und professionelle Fernsehredakteurin, mit ihrem Spielfilmdebüt „Kaygı“ („Inflame“) im Panorama vertreten, und es ist der einzige türkische Film der diesjährigen Berlinale.

Özçelik hat auch das Drehbuch des Films geschrieben und ihn koproduziert, mit Unterstützung des türkischen Kultusministeriums, ohne dessen Finanzierung kaum ein Arthouse-Film auskommt. Allerdings haben sich die Förderungsbedingungen in den letzten Jahren erheblich verändert, und die Mitglieder des entscheidenden Komitees, das sich aus Beamten und Filmleuten zusammensetzt, wechseln alle zwei Jahre.

„Ich hatte das Drehbuch 2013 eingereicht“, erzählt Özçelik beim Gespräch in Berlin, „daraufhin wurde ich zur Vorstellung nach Ankara eingeladen, und das lief sehr gut. Allerdings wurde das Projekt zunächst auf Wiedervorlage gelegt. Im nächsten Jahr haben sie mich noch einmal eingeladen und die Förderung schließlich bewilligt, sie machten es ziemlich spannend“, lächelt die Regisseurin. Hätte Özçelik ihr Drehbuch erst jetzt eingereicht, so hätte sie möglicherweise keine Zuschüsse bekommen, denn „Kaygi“ ist ein politisch aktueller Film, auch wenn er sich nicht explizit auf die Gegenwart bezieht.

Kaygi bedeutet Befürchtung oder innere Unruhe

Kaygi ist das türkische Wort für Befürchtung oder auch innere Unruhe, und beides charakterisiert die Filmheldin Hasret, eine Fernsehjournalistin Ende 30, die bei einem Fernsehsender in der Dokumentarfilmabteilung arbeitet. Dann wird sie zu den Nachrichten versetzt, wo ihre Kollegen sie unter Druck setzen, und auch privat gerät Hasret in Schwierigkeiten: In ihrer Wohnung kann sie nicht mehr lange wohnen, weil das Haus abgerissen werden soll. Sie hört Geräusche und Stimmen, die sie nicht lokalisieren kann, und sie kommt nicht von dem Gedanken los, dass man sie über den Tod ihrer Eltern, die bei einem Autounfall ums Leben kamen, als sie noch klein war, belogen hat.

Schließlich geht Hasret nicht mehr zur Arbeit, beantwortet keine Anrufe mehr; eine besorgte Freundin schickt sie weg. Sie verschanzt sich in ihrer Wohnung, wo sie von Albträumen und Hitzeempfindungen gequält wird und sich lange unbeachteten Dokumenten und Fotos aus ihrer Kindheit widmet. Die Wände ihrer Wohnung scheinen zusammenzurücken, in dunklen Ecken öffnen sich plötzlich Türen, Menschen sind im Flur unterwegs.

Wahrheitssucherin. Die Regisseurin Ceylan Özgün Özçelik.
Wahrheitssucherin. Die Regisseurin Ceylan Özgün Özçelik.

© Thilo Rückels/Berlinale

Individuelle Paranoia und eine implodierende Gesellschaft

„Kaygi“ ist sowohl ein Porträt einer Frau, die paranoid wird, weil sie den Druck nicht aushält, unter dem sie steht, als auch das Porträt einer Gesellschaft, die implodiert. „Wir sind doch alle paranoid“, meint Özçelik, „und verzweifelt: Wir lachen nur noch, wenn wir die Nachrichten anschauen und wieder eine absurde Gesetzesänderung verabschiedet wird; das ist ja nicht nur bei uns so, sondern neuerdings auch in den USA. Wir werden alle ein bisschen verrückt.“

„Kaygi“ ist auch ein Film über die Erinnerung und deren Verbot, über Wahrheit und wie man sie manipulieren kann. „Was Sie sehen, ist die Wahrheit. Was Sie hören, ist die Wahrheit“, lautet das Motto des fiktiven Fernsehsenders Tek TV, also „einziges Fernsehen“. Bei dem Namen habe sie an gleichgeschaltete Medien gedacht und an bestimmte Sprachregelungen, die plötzlich zum Standard werden – zum Beispiel Ereignis statt Massaker.

So wird rückblickend ein fundamentalistisch-religiöser Brandanschlag im Jahr 1993 auf ein Hotel in der anatolischen Stadt Sivas genannt, bei dem über 30 Menschen getötet wurden: Künstler vor allem, die an einem alevitischen Kulturfestival teilnahmen. „Kaygi“ trägt ein wenig zur historischen Aufarbeitung des Verbrechens bei.

Manipulierte Erinnerung

Das Sivas-Massaker, wie die Aleviten es nennen, repräsentiert, so erklärt Ceylan Özgün Özçelik, generell den öffentlichen Umgang mit Geschichte und der Erinnerung daran. „Die junge Generation weiß vieles nicht, weil sie es nicht gelernt hat; und wenn man nicht in einem bildungsfreundlichen Umfeld aufwächst, wie soll man es ohne Information der Medien erfahren?“, fragt die 1980 in Rize geborene Regisseurin. „Wenn die offizielle Sprachregelung Massaker oder Anschläge einfach Ereignisse nennt, weiß nach kurzer Zeit niemand mehr, was eigentlich passiert ist, das Geschehen, und die Erinnerung daran werden ausgelöscht.“

Können die sozialen Netzwerke eine Alternative zur offiziellen Berichterstattung sein, wie einige der Journalisten in ihrem Film meinen? „Ich halte die für genauso unzuverlässig wie die Presse“, erklärt Özçelik „gerade jetzt, wo besonders die Teenager sich nur noch darüber informieren.“ Eine winzige Szene in ihrem Film zeigt die Journalistin Hasret mit einer sehr jungen Kollegin, die unausgesetzt auf ihr Handy-Display starrt, während sie mit ihr spricht. Um einen Blick von ihr zu erhaschen, beugt Hasret sich nach hinten unten, bis ihr Gesicht auf Handy-Höhe ist, erst dann kann sie Augenkontakt herstellen.

Und so plädiert Ceylan Özgün Özçelik mit ihrem ersten langen Spielfilm auf beinahe rührend altmodische Weise für investigativen Journalismus, Recherche und Aufklärung des Publikums. Im gerade anbrechenden Zeitalter der alternativen Fakten ist das ein erfrischend ehrenhafter Ansatz.

12.2., 19 Uhr (Zoo-Palast 1), 13.2., 9.30 Uhr (Cinemaxx 7), 14.2., 14.30 Uhr (Cubix 9),

16.2., 22.30 Uhr (Colosseum 1), 18.2., 12 Uhr (Cinemaxx 8)

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