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Berliner Brücken (11): Hübsch hässlich

Oberbaum- und Warschauer Brücke sind eine große Party-Tangente zwischen Kreuzberg und Friedrichshain. Ein Nachtprotokoll.

18 Uhr: Abendsonne wärmt die Falckensteinstraße. Mit elegantem Schwung biegt die Hochbahn auf die Oberbaumbrücke ein. Die Trasse teilt das maritime Panorama. Links lassen Kräne jenseits der Spree die Rohbauten in der Mühlenstraße wachsen. Rechts in der Stralauer Allee ragen die von der Kreativbranche gekaperten Speichergebäude auf. Darunter hasten Passanten in den Kreuzgang, 150 Meter Neugotik von 1895, erbaut von Siemens & Halske. Vor dem Eckhaus am Wasser, heute der Club Watergate, blinkt was im Trottoir – ein einsamer Kreuzberger Stolperstein. „Hier wohnte Lieselotte Moses, geb. Gerson, Jahrgang 1914, deportiert 1943, ermordet in Auschwitz.“ Ein Verbrechen mit Folgen: für das Land, die Stadt, die Brücke – 20 Jahre später herrscht Kalter Krieg auf der Oberbaumbrücke. Auto- und Bahnverkehr sind unterbrochen. Mehr als 25 Jahre lang dürfen nur West-Berliner mit Passierschein zu Fuß rüber. Dafür hört seit ein paar Jahren mit Open-Air-Galerie, Gemüseschlachten und Alltagsbespaßung die Party auf der Oberbaumbrücke nie mehr auf. Sie ist das Kreuzberger Ende der Party-Tangente, die in Friedrichshain auf der Warschauer Brücke beginnt.

18.40 Uhr: Ein voll mit Sonnenbrillen besetzter Sightseeing-Dampfer taucht unter der Brückenmitte hindurch. Hinter ihnen glitzert Mitte, vor ihnen blaut der Spreeblick Richtung Treptow. „Die im Krieg stark beschädigte Brücke wurde bis 1995 saniert, heute ist sie das Wahrzeichen der 2001 fusionierten Bezirke Friedrichshain und Kreuzberg“, dröhnt ein Lautsprecher. Ein Punker springt auf, die Ratte auf seiner Schulter schaut erschreckt. „Hört nicht auf die Scheiße“ brüllt er auf Touristenhäupter nieder. Alle 50 Meter jammt eine andere Band gegen den Feierabendverkehr an.

19.20 Uhr: Jetzt gehört die Oberbaumbrücke Touristen und Tagedieben. Nur wenige Menschen passieren noch mit zielstrebigem Alltagsschritt. Vom Wasser frischt Kühle herauf. Ein Maler verkauft Bilder, zwei Mädchen turnen und tanzen. Vor einer halben Stunde haben sie sich erst kennengelernt. Jetzt gibt Pamina aus Österreich Sandra aus Münster Handstandunterricht.

19.45 Uhr: Friedrichshain ist eine andere Klimazone. Beim Vorgehen spürt man an der East-Side-Gallery und am Hochbahnviadukt längs der Warschauer Straße deutlich die gespeicherte Wärme. Auch dieser prächtige Backsteinbau ist von Siemens & Halske, seit 1902 im ersten, seit 1995 im zweiten Anlauf in Betrieb. Vorm U-Bahnhof Warschauer Straße wechseln sich am Wochenende die Musiker ab, es riecht nach Bier.

20.10 Uhr: Mitten auf der Warschauer Brücke. Mehr als 60 000 Menschen steigen hier täglich von der S-Bahn in die Straßenbahn oder U-Bahn um. 2005 wurde der morsche S-Bahnhof abgerissen, 2015 soll ein neuer kommen, bis dahin schafft ein Provisorium die Anarchie des Hässlichen.

20.15 Uhr: Eine Bahn entleert sich. Die S-Bahnbrücke schwingt unter den trappelnden Füßen, gegen den Strom gehen ist so gut wie unmöglich, die 24-Stunden-Imbissbuden vorne an der Straße wirken als Nadelöhr. Hektik, Geschiebe, Transit, nach Haus, ins Leben. So muss es früher beim Schichtwechsel am Werkstor von Borsig gewesen sein. Rollkoffer-Reisende und Partyvolk schieben sich über die Warschauer Brücke. Die einen streben zur U-Bahn, die meisten zum RAW- Gelände und in den Simon-Dach-Kiez. Ein Keyboarder, ein Soultrio und ein einsamer Gitarrero haben die Brücke unter sich aufgeteilt. Die Laternenpfähle tragen dicke Schürzen verklebter Plakate. Die erste Bierflasche geht klirrend zu Bruch. Füße kicken die Scherben weiter.

20.25 Uhr: Auf der anderen Seite der Brücke spielt eine zarte Romanze. Sie heißt Sonnenuntergang hinter der Metro. In den Hauptrollen: Franziska und Onno. Sie tuscheln, halten sich im Arm und bestaunen die im Abendrot aufleuchtenden Bänder der Gleise. Er habe mal Freunde aus Hamburg hergeführt, um ihnen diese kaputte Idylle zu zeigen, sagt Onno. Ihre Ignoranz ist ihm bis heute ein Rätsel. „Die haben nichts kapiert, sondern nur mit den Achseln gezuckt!“

21 Uhr: Blaue Stunde auf der nicht überbauten Seite der Oberbaumbrücke. Der Fernsehturm sticht in den langsam einschwärzenden Himmel, auf der Friedrichshainer Seite leuchten Hostel-Schiffe, die Uferkneipe und ein elektrifizierter Mercedes-Stern. Kreuzberg liegt im Dunkeln. Schon den dritten Abend sitzt Andrea aus Prenzlauer Berg am Fahrbahnrand und fotografiert die Kreuzung Mühlenstraße und Stralauer Allee. Seltsam. Ein Bild der bei Hobbyfotografen begehrten Brückensilhouette bekommt sie so nicht. Ist ihr egal. Sie knipst ihren Partner Michael, der auf der Mittelinsel steht und die Brücke fotografiert. Er knipst die U1 und die Autos von vorne und hinten als gelbe, weiße und rote Linien. Belichtungszeit 30 Sekunden. „Es ist die Bewegung, die mich interessiert.“

21.50 Uhr: Der Mond hängt über den ehemaligen Speichern und streut Silber über die Spree. Die Leute scharen sich um eine Rhythm-Section aus Schlagzeug und Didgeridoo. Knall, bumm, zisch – aaaah!, in Richtung Fernsehturm ist Feuerwerk.

22.35 Uhr: Gewusel vorm U-Bahnhof Warschauer Straße. Die ersten Wildpinkler erleichtern sich vorm Gebäude. Eine junge Ausgabe von Joni Mitchell singt zur Gitarre. Das Partyvolk lagert palavernd um sie herum. Ihr sei kalt, entschuldigt sie sich bei einem Schnitzer. Da ist er ja, der „Wind auf der Warschauer Brücke“, den Paul Wiens bedichtete.

23.20 Uhr: Kein Durchkommen an den Imbissbuden vorm S-Bahnhof. Besoffene Teenies kreischen, der schrottige Verstärker einer Soulband klirrt, sie sammeln Geld in einem rosa Plüschschwein. Mit Schärpen geschmückte Mädels ziehen nach Friedrichshain. In Richtung Kreuzberg marschieren johlende Jungs mit Robin-Hood-Hütchen, „Morphsuit“ steht auf ihrem Strumpfhosen-Dress. Eine Frau führt einen überfordert in die Schrille blickenden Labrador am Zaumzeug, auch das ist beschriftet: „Overkill“.

0.15 Uhr: Jung Joni Mitchell packt vorm U-Bahnhof ein. Ein Mann schiebt einen Einkaufswagen vorbei. Obenauf hockt ein angeleintes Karnickel. „Süß“, quietschen drei Österreicherinnen. An der Ampel pinkelt einer die Pumps einer Engländerin an, „disgusting“ schreit sie.

1 Uhr: Die Clubs am Oberbaum haben auf, Mittzwanziger strömen raus und rein. Gegenüber hockt ein Bettler mit akkurat gestutztem Schnauz. Andreas, 60, Pole, Schwarzarbeiter am Bau. Dafür kommt er schon seit Jahren nach Berlin. Diesmal ist es schiefgegangen. Vor zwei Monaten ist er von einer Treppe gestürzt, lag wochenlang im Krankenhaus. Er krempelt die Hose hoch und zeigt die von Knöchel bis übers Knie reichende Narbe mit dickem Schorf. „Hoffentlich kann ich bald wieder arbeiten“, sagt er. Und dass er in einem Hausflur in der Görlitzer Straße schläft. Sein Deutsch ist gut. „Früher war ich in Polen Physiker, aber seit dem Unfall bin ich am Arsch.“

Um halb drei gehört die S-Bahnbrücke den Beatboxern

1.40 Uhr: Leute mit Kopfhörern wackeln im Takt einer lautlosen Musik. Zwei Euro Leihgebühr, ein Euro pro Bier und ein persönlicher Gegenstand als Pfand, schon hat man Elektrobeats auf den Ohren. Silent Disco auf der Oberbaumbrücke. Der Typ, der die Kopfhörer ausgibt, hatte schon ein Bier zu viel. Auf zehn Euro will er auch beim zweiten Anlauf noch einen 50-Euro-Schein rausgeben.

1.55 Uhr: Schlagzeuger Wieland und der Niederländer Michiu mit dem Didgeridoo sind von der Oberbaum- zur Warschauer Brücke gewechselt. Da pulst das Leben länger. Auf den Brücken Musik zu machen sei cool, sagen sie. „Wir lieben den weiten Raum und die Nacht.“

2.25 Uhr: Die S-Bahnbrücke gehört den Beatboxern. Die Leute klatschen. Ihr Müll fliegt ins Gleisbett darunter. Dies ist die lausigste Liebesbrücke, die man sich vorstellen kann. Ein kicherndes Paar schließt ein Schloss am Geländer an.

3 Uhr: Zwischen den Stehtischen der Imbissbuden stehen klebrige Pfützen verschütteter Getränke. Beim Gehen schmatzen die Schritte, Altglas knirscht unter den Sohlen. Der Dönermann ist seit 15 Jahren hier, ein Zweckoptimist, „Warschauer Brücke, immer live, immer gut“, lacht er. Unter der Woche beruhige es sich zwischen 2.30 und 4 Uhr, also der letzten und ersten S-Bahn, aber wochenends gehe es inzwischen nonstop. Wird ihm der Trubel nicht zu viel? Er zuckt die Achseln. „Ich habe drei Kinder und eine Frau!“

3.20 Uhr: Seit Stunden cruisen auf beiden Brücken die Flaschensammler. Sie schieben Wagen, schleppen Tüten. So wie ein Herr auf der Warschauer Brücke. Gut gekleidet, graumeliert, Intellektuellenbrille. „Ich bin Jurist“, sagt er, „aber arbeitslos und auf Hartz IV“. Der Bahnhof Zoo sei sein Stammrevier, aber nachts käme er aus Reinickendorf gerne mal her. „Zehn Euro kann ich hier auf die Schnelle machen.“ Nur auf das RAW-Gelände geht er nicht mehr rüber. „Das teilen sich vier feste Sammler, gibt nur Ärger.“

4 Uhr: Auf der Warschauer- und der Oberbaumbrücke bläst ein kalter Wind. Sterne funkeln auf die fröstelnden Nachtgestalten herab. Die, die jetzt noch unterwegs sind, schwanken. Die Party-Tangente leert sich, es riecht nach Urin. Auf der Falckensteinstraße tappt ein alter Mann mit Hund herum. Mit dem Eimer in der Hand spachtelt er Werbung von Laternen ab. „Hau ab“, grummelt er, „ich will nüscht reden, lass’ mich in Ruhe“. Ruhe, ja. Das ist es, was diese Brücke nötig hat.

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