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Übermalungen. Die ehemalige Siegfriedbrücke wurde 1931 nach dem Verleger Gustav Langescheid benannt.

© Vincent Schlemmer

Berliner Brücken (12): Das Narbengesicht und die Engel

Stahl, Mühl, Grafitti: Die Langenscheidtbrücke in Schöneberg ist nicht unbedingt schön. Aber sie hat ihre eigenen Geheimnisse. Und Wim Wenders hat sie in seinem Film "Himmel über Berlin" verewigt.

Die Brücke ist ein guter Platz zum Sterben. Vor sich sieht der verunglückte Motorradfahrer das tröstliche Panorama einer Schultheiss-Kneipe. Im Rücken spürt er Beistand. Engel Damiel ist zur Ecke Monumentenstraße/Czeminskistraße geeilt, um den blutenden Easy Rider in die ewigen Jagdgründe zu schicken. Sie sprechen gemeinsam: „Wie ich bergauf ging und aus dem Talnebel in die Sonne kam … Das Kreuz des Südens. Der ferne Osten. Der Wilde Westen. Der große Bärensee.“ Was für ein schöner Weltabgesang.

Hier, an der Langenscheidtbrücke in Schöneberg, ist in den Achtzigern eine der berühmtesten Szenen aus Wim Wenders’ „Der Himmel über Berlin“ gedreht worden. Bruno Ganz spielt den Engel Damiel, der im Trenchcoat auf Erden wandelt. Und der nach vollbrachter Sterbebegleitung auf der S-Bahn-Überquerung Richtung Langenscheidtstraße davoneilt, als wäre der Teufel hinter ihm her. Ein Ort zum Verweilen ist es nicht.

Machen wir uns nichts vor: Die Langenscheidbrücke ist unscheinbar bis hässlich. Eine funktionale Stahlkonstruktion aus Fachwerkträgern, mit Graffiti übersät. Eine Transittrasse, auf der viel Verkehr herrscht, aber kein göttlicher Hauch zu spüren ist. Am Spätnachmittag trifft man auf der Fußgängerseite mit Blick auf den Bahnhof Julius-Leber-Brücke nur eine alte Frau im zerrissenen grünen Regencape, die mit apokalyptischem Furor über die Strompreise schimpft. Selbst ein sicherlich nicht böswilliger Bildband wie „Berliner Brücken: Gestaltung und Schmuck“ nennt das Bauwerk „in gestalterischer Hinsicht eher fragwürdig“. Ein ästhetisches Urteil, das auch gleich auf die Skulptur „Bahn-Damm“ des Bildhauers Georg ausgeweitet wird, die an der Ecke zur Crellestraße steht. Ein klobiges Etwas aus Stahl mit gekreuzter Schranke.

Zu den Berliner Partymeilen zählt die Brücke nicht. Nicht ein einziges Liebesschloss ziert ihr Geländer. Auch die Schultheiss-Pinte ist schon lange geschlossen, der Eckladen steht leer.

Der Schauplatz des Engelepos: Eine Müllkippe

In den Neunzigern begann die Brücke vor allem wegen einer unguten Angewohnheit der Passanten Schlagzeilen zu machen: Die Leute warfen massenweise Abfall hinunter. „Wie bei Hempels unterm Sofa“ titelte die Presse. Die Uferböschungen an der S-Bahn-Trasse: ein Schlachtfeld. Die Treppen von der Crellestraße zu den Gleisen: von Unrat übersät. Ein Zustand, an dem sich nichts geändert hat. Der Schauplatz des Engelepos, eine Müllkippe. Wenders, der ja noch in der geteilten Stadt drehte, hätte trotzdem keine bessere Location finden können. Die Langenscheidtbrücke hat ein graues Narbengesicht. Eine schroffe Gestalt. Aber die zeugt von gelebter Geschichte und ihren Ablagerungen und Übermalungen.

Bis 1931 hieß das Bauwerk noch Siegfriedbrücke. Es gibt eine schöne Fotografie von 1900, die sie in ihrem ursprünglichen, vielleicht nicht Glanz, aber doch Stolz zeigt. Aufgenommen aus der Vogel- oder Engelperspektive. Zwei frühe Automobile bilden das gesamte Verkehrsaufkommen, zwischen den Gründerzeithäusern strebt die Stubenrauchstraße, wie die Langenscheidtstraße damals hieß, auf die Ausläufer des Botanischen Gartens zu. Rechter Hand in diesem Panorama, an der parallel zu den Gleisen laufenden Bahnstraße, klafft eine Baulücke. Hier errichtete 1905 die Verlagsanstalt Langenscheidt ihren neuen Sitz mit Druckerei.

Der polyglotte Gustav Langenscheidt war Ende der 1840er, Anfang der 1850er Jahre unermüdlich durch Deutschland und die Nachbarländer gezogen. 7000 Kilometer – zu Fuß und mit der Postkutsche. Die Erfahrungen notierte er im Tagebuch „Promenaden durch Nord, Süd und West“. Unterwegs machte der rastlose Herr Langenscheidt eine quälende Erfahrung: „Ich habe immer wieder das peinliche Gefühl, unter Menschen nicht Mensch sein, meine Gedanken nicht austauschen zu können“. Aus der Verständigungsnot machte er, zurück in Berlin, ein Geschäft. Die erste Publikation seiner Langenscheidtschen Verlagsbuchhandlung war der „Briefliche Sprach- und Sprechunterricht für das Selbststudium der deutschen Sprache“. Der Grundstein eines Imperiums. Die Familie Langenscheidt zählt noch heute zu den reichsten Dynastien Deutschlands. Obwohl der Verlag das Druckhaus und die Buchbinderei an der Crellestraße 2005 aufgeben musste.

Die Brücke ist der Westausgang der "Roten Insel"

Zu Ehren des Verlagsgründers, der zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr unter den Lebenden weilte, wurde 1931 die Siegfriedbrücke in Langenscheidtbrücke umgetauft. Sie überlebte in ihrer ursprünglichen Gestalt immerhin bis 1987. Dann sollte sie der geplanten Westtangente der Bundesautobahn 103 weichen und durch eine schnöde Kastenbrücke ersetzt werden. Wogegen die Anwohner Sturm liefen. Nach bewährter Tradition. Die Langenscheidtbrücke bildet schließlich den Westausgang der von Gleisen umschlossenen „Roten Insel“ in Schöneberg, die ihren Namen einer historisch gewachsenen, wackeren Linksgesinnung nebst dazugehörigem Widerstandsgeist gegen die Obrigkeit verdankt. Eine Arbeiter- und Kommunisten-Hochburg. Einst richtete sich die Autoritäten-Allergie gegen den Kaiser. Dann gegen die Nazis. Heute gegen Investoren. An der Crellestraße, nahe der Skulptur „Bahn-Damm“, sind die Kiez-Grabenkämpfe gerade wieder zu besichtigen. Da wirbt ein Plakat für den Neubau eines Wohn- und Geschäftshauses. Davor aber hat die Bürgerinitiative „Crellekiez Zukunft“ ihr Gegentransparent gepflanzt, das für den Erhalt dreier alter Linden auf dem Grundstück streitet.

Im Falle der Langenscheidtbrücke war der Protest erfolgreich und vergebens zugleich. Das denkmalschutzwürdige Bauwerk hätte eigentlich instand gesetzt werden sollen. Aber Korrosion und Zahn der Zeit hatten es derart angeschlagen, dass ein Neubau notwendig wurde. Der entstand bis 1989 unter Berücksichtigung des historischen Erscheinungsbildes.

Mitte der Neunziger machte die Langenscheidtbrücke noch einmal Schlagzeilen. Einige sogenannte Elfenspezialisten boten Wanderungen auf den Spuren von Wesen an, die angeblich am Bahndamm hausten. Gewarnt wurde vor dem Kontakt mit „Duftelfen“, deren ätherische Ausdünstungen zu „Tanzwahn“ führen könnten. Angesichts solchen Hokospokus’ würden sich Wenders’ Engel die Flügel raufen.

Wer nach himmlischen Zeichen sucht, der sollte, von der Langenscheidtstraße kommend, einen der ersten Brückenpfeiler auf der linken Seite genauer betrachten. Unter dem herzchenumrankten Schriftzug „Daggi liebt Jülijül“ steht dort, klein aber unverkennbar: „Halleluja“.

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