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Justitias Prunk. Das Kriminalgericht Moabit in der Turmstraße 91.

© Thilo Rückeis

Berliner Häuser (11): Auf dem Türknauf wacht die weise Eule

Das Kriminalgericht Moabit in der Turmstraße 91 ist ein Labyrinth von Gängen und Geschossen. Ein Schöffe blickt hinter die Kulissen.

Das Kriminalgericht ist eine Wucht. Die mächtige Fassade nimmt einen ganzen Straßenblock der Turmstraße ein. Seine beiden Türme ragen 60 Meter in die Höhe. 1906 erbaut, war es das erste elektrisch beleuchtete Gebäude Berlins. Damals wurde die monumentale Architektur kritisiert als „kaiserlicher Faustschlag ins Gesicht der Moabiter Arbeiterklasse“. Heute beherbergt das Kriminalgericht die Strafabteilungen des Amtsgerichts Tiergarten, die Strafkammern des Landgerichts Berlin sowie große Teile der Staatsanwaltschaft Berlin. Durch ein ausgeklügeltes System von verborgenen Gängen ist es zudem mit dem benachbarten Untersuchungsgefängnis Moabit verbunden. Ob der Bau als Einschüchterungsarchitektur oder als Ausdruck der Wertschätzung einer unabhängigen Rechtsprechung empfunden wird: Im Kriminalgericht geht es auf jeden Fall zur Sache.

Hat der angeklagte Arzt die Patientinnen auf eine medizinisch gebotene Weise untersucht oder hat er sie sexuell missbraucht? Für ihn geht es um Haft und beruflichen Ruin oder um Freispruch. Für die Patientinnen, die als Zeuginnen gehört werden und als Nebenklägerinnen auftreten, geht es um das körperliche und seelische Leid, das sie durch die Behandlungen erlebt haben. Fast jede von ihnen ist während des Erzählens in Tränen ausgebrochen. Mittlerweile ist es der siebte Verhandlungstag, man hat um neun Uhr morgens begonnen, nun ist es acht Uhr abends, die Stimmung in Saal 504 äußerst gereizt.

Die Richterin schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch, als die Anwälte der gegnerischen Parteien sich angiften wie die Waschweiber: „Meine Herren! Wir kehren jetzt zu zivilisierten Umgangsformen zurück!“ Die drei Verteidiger des Arztes häufen Antrag auf Antrag, weitere Zeugen und Sachverständige sollen gehört werden; man braucht Pausen, um sich mit dem Mandanten zu besprechen. Die Pausen bekommen sie, die Anträge auf weitere Zeugen werden abgelehnt; daraufhin kontern sie mit Anträgen auf Ablehnung der Richterin und der Schöffen wegen Besorgnis der Befangenheit. Darüber befindet ein anderer Richter, der nun erst gefunden werden muss.

An diesem Freitagabend liegt das Kriminalgericht still und fast verlassen. Die Wachleute am Eingang wollen nach Hause. Sie sind seit halb sieben morgens im Einsatz. Am Vormittag haben sie am meisten zu tun, wenn die betroffenen Berliner zur Rechtspflege antreten. Vor dem Portal rauchen die Angeklagten und ihre Familien noch rasch einige Zigaretten, Anwälte und Zeugen eilen herbei. Etwa 300 Hauptverhandlungen stehen täglich an. Der richtige Saal will aber erst gefunden werden. „Um sich in dem Labyrinth von Korridoren, Treppen und Seitengängen zurechtzufinden, wird es eines längeren Studiums bedürfen“, hieß es schon vor 100 Jahren in einer Zeitung. Auch heute noch kommt man aus dem Staunen nicht heraus, wenn man auf aberhundert Treppenstufen, 200 Meter langen Gängen, überraschenden Zwischengeschossen das Gerichtsgebäude erwandert. Wer die Zeugenbetreuungsstelle sucht, findet das Anwaltszimmer; wer die kleine Ausstellung historischer Arbeitsräume sehen möchte, wundert sich vorher über die Geheimnisse der Asservatenkammer. Kommt man an Saal 700 vorbei, beachte man die kleine Eule, die in den Türknauf eingearbeitet ist. Mancher Richter, der in diesem Saal verhandelt, streicht beim Eintreten kurz über dieses Sinnbild der Weisheit und wünscht sich ein kluges Urteil.

Bis zum Urteil im Prozess gegen den angeklagten Arzt ist es noch weit. Gegen elf Uhr nachts wird die Verhandlung unterbrochen, man vertagt sich auf den nächsten Dienstag, ein Schöffe wird deshalb seine Sibirienreise später antreten. Das gehört zu den Pflichten des Amtes. Zu den Freuden eines Schöffen zählen die vielfältigen Einblicke in ungewöhnliche Lebenswelten, in heftige Leidenschaften, verkorkste Karrieren und fantasievolle Ausflüchte. Die Angestellte einer Schwarzarbeitsfirma etwa kann sich partout nicht erinnern: „Die Jahre hab’ ich aus meinem Hirn ausradiert.“ Auch bei Angeklagten ist die Erinnerung oft „durch Gedächtnislücken getrübt“.

Ein Schöffe weiß nicht, was ihn erwartet, wenn er zu einer neuen Verhandlung geladen wird; das teilt der Richter ihm fünf Minuten vor Prozessbeginn mit. Mal sind es Unterhaltsstreitigkeiten, Fahren ohne Führerschein, notorisches Schwarzfahren oder auch läppische Beleidigungen. „Das beerdigen wir in fünf Minuten“, verspricht der eilige Richter, hat damit jedoch nur selten recht. Ein Schöffe kennt die Akten nicht, er urteilt nach dem, was in der Verhandlung zur Sprache kommt, und er urteilt nach seiner Lebenserfahrung und Menschenkenntnis, unbeeindruckt von den Finten und Schnörkeln einer juristischen Denkweise. Dennoch wiegt seine Stimme so viel wie die der Berufsrichter, und auch in der Frage der Strafzumessung kann er mitdiskutieren.

Es ist ein weiter Weg bis zur Entscheidung. In der Sache des angeklagten Arztes kommt es am achten Verhandlungstag endlich zu den Schlussvorträgen der Staatsanwältin, der Verteidiger und der Anwälte der Nebenklägerinnen. Das letzte Wort hat der Angeklagte, der nochmals beteuert, nach rein medizinischen Gesichtspunkten gehandelt zu haben. Dann zieht sich das Gericht zur Beratung zurück. Das Warten beginnt. Auf den Gängen des Gerichts ist es still. Anwälte und Mandant stehen flüsternd zusammen. Ein Gerichtsdiener schiebt einen Aktenwagen vorbei. Vor dem nächsten Saal warten andere Zeugen auf ihren Aufruf.

Was derweil im Beratungszimmer geschieht, ist geheim. Nur so viel: Es ist ein nüchternes Amtszimmer, Tisch und Stühle, Telefon, Zettelkasten mit Überweisungsformularen für gemeinnützige Vereine. Richter und Schöffen stecken die Köpfe zusammen. Man berät. Man wägt. Waren die Zeugen glaubwürdig? Zeigt der Angeklagte Reue? Ist man wirklich von seiner Schuld überzeugt? Wenn ja, welche Strafe wäre angemessen? Haft oder auf Bewährung auszusetzen? Niemand macht sich die Sache leicht, und wenn das Urteil verkündet wird, im Namen des Volkes, dann wird die Verantwortung spürbar, ins Leben eines Menschen empfindlich einzugreifen. Der Arzt wird schuldig gesprochen. Die Strafe lautet auf zwei Jahre Haft, die zur Bewährung ausgesetzt werden; zudem darf er drei Jahre lang keine weiblichen Patienten behandeln.

Die riesige Haupthalle mit den geschwungenen Treppen ist leer, es ist zehn Uhr abends. Das Kriminalgericht schließt seine Pforten, und der Schöffe fährt zurück nach Kreuzberg, wo das Tragen von Jackett und Krawatte noch als Ordnungswidrigkeit gilt und entsprechend gerügt wird: „Ey, du Fatzke!“

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