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Urig. Die Gaststätte "Zur letzten Instanz" in der Waisenstraße.

© Doris Spiekermann-Klaas.

Berliner Häuser (14):: Waise mit Schuss

450 Jahre Gemütlichkeit: „Zur letzten Instanz“ in der Waisenstraße 14-16 in Mitte gilt als älteste Schankwirtschaft der Stadt. Wo einst Napoleon saß, speisen heute Juristen.

Wie mag es sich angehört haben, das alte Berlin? Das Wiehern und Schnauben der Pferde, das Klackern der Hufeisen auf blanken Pflastersteinen, das Rumpeln der Räder, Peitschenknallen, Gebrüll und Lachen der Kutscher in speckigen Schürzen, das Krachen der hölzernen Bierfässer beim Abladen, das Zischen und Dampfen der Fabriken, Maschinen, die mit mächtigen Stößen Holzpfähle für die U-Bahn in die Spree rammen, das Ganze vermischt mit Geräuschen der Kirchenglocken und den Zeichen der Zukunft, dem Tackern von ein paar hundert Automobilen?

Man meint, sie noch zu hören, die alte Stadt, wie ein Echo von fern her, wenn man die Häuserzeile in der Waisenstraße entlangläuft. Heute ist es dort ruhig. Bierkutscher arbeiten hier schon lange nicht mehr. Still liegen das Straßenpflaster und der Friedhof der Parochialkirche in der herbstmilden Oktobersonne, nur durch die Bäume rauscht ein bisschen Wind. Die Mitte Berlins ist versunken, vergessen, leer geräumt. Und doch kann man noch erahnen, was hier mal war. In den Häusern 14–16 ist die Gaststätte „Zur letzten Instanz“ untergebracht, die als die älteste der Stadt gilt. Doch der Begriff „alt“ bedeutet in Berlin nicht das Gleiche wie, sagen wir, in Rom. Um hier als alt zu gelten, muss man nicht unbedingt die Aura des Echten haben. Die Fundamente der Gaststätte stammen aus dem Spätmittelalter, der Rest ist eine Rekonstruktion der sechziger Jahre. Disneyland in Alt-Berlin, wenn man so will. Aber die Institution als solche ist historisch, seit mehreren Jahrhunderten existiert an dieser Stelle, unter wechselnden Namen, ein Gasthaus. Urkundlich erwähnt wurde das Haus mit der Nummer 15 erstmals 1561.

Damals ist die Waisenstraße in ganzer Länge dicht an dich bebaut. Sie trägt noch einen anderen Namen: Bullenwinkel. Denn hier, in der hintersten Ecke der Altstadt, werden die Tiere zusammengetrieben, um sie besser schlachten zu können. Die Häuser sind unmittelbar an der mittelalterlichen Stadtmauer errichtet, die quasi die vierte Wand bildet – bis heute. 1621 eröffnet in der Nummer 15 erstmals eine Gaststätte. Es sind turbulente Jahre. In Brandenburg regiert Kurfürst Georg Wilhelm (1595–1640), ein schwacher, zögerlicher Herrscher, der schlecht passt in die Zeit des beginnenden 30-jährigen Krieges. „Will der Herr Kurfürst noch für andere eintreten! Er sollte froh sein, wenn er sein eigenes Land behält“, sagt Wallenstein über ihn. Die Kämpfe werden von marodierenden Söldnerheeren ausgefochten. Einem dieser Söldner zahlt Georg Wilhelm keinen Sold, stattdessen schenkt er ihm die Lizenz für eine Branntweinstube. Der Name des Landsknechts ist nicht überliefert, aber seine Figur thront heute auf der Schanksäule gleich am Eingang.

Im Jahr 1715 – Ludwig XIV. stirbt in Versailles – wird in der Parochialkirche ein bald berlinweit bekanntes Glockenspiel installiert und die Gaststätte in „Bierstübchen am Glockenspiel“ umbenannt. Noch mal rund hundert Jahre später kehrt ein anderer mächtiger Franzose ein. Der Kachelofen, an dem Napoleon gesessen haben soll, ist bis heute erhalten. 1905 entsteht hundert Meter weiter an der damaligen Neuen Friedrichstraße das Land- und Amtsgericht. So kommt die Gaststätte zu ihrem heutigen Namen. Manches Ehepaar soll vor der Scheidung eingekehrt sein, um es sich dann beim Schultheiss doch noch mal anders zu überlegen. Noch heute essen viele Gerichtsbesucher hier, der Deutsche Anwalt Verein hat seinen Sitz auf der anderen Straßenseite.

1945 ist auch die „Letzte Instanz“ schwer beschädigt. Der Magistrat von Ost-Berlin entscheidet sich 1961 für den Abriss, aber, anders als im Rest der Innenstadt, auch für die Rekonstruktion, während das übrige Zentrum systematisch von jeder Bebauung befreit wird. Das Glück des Klosterviertels: Es liegt im Windschatten der Aufmerksamkeit. So kommt es zu der paradoxen Situation, dass die meisten Berlin-Besucher heute direkt ins Nikolaiviertel streben, wo sie so gut wie keine authentischen historischen Bauten mehr vorfinden, während das Klosterviertel der einzige Bereich der mittelalterlichen Innenstadt ist, der erhaltene Strukturen aufweist, aber von Besuchern gemieden wird. Was auch daran liegt, dass zwei Verkehrsmagistralen, die Gruner- und die Stralauer Straße, das Viertel von der übrigen Stadt isolieren.

Zur Mittagszeit sitzen im Biergarten nur wenig Gäste. Jetzt hat Inhaber Rainer Sperling, 55, Zeit, sich ein bisschen zu unterhalten. Waschechter Berliner ist er, geboren in Weißensee. Als Matrose der Handelsmarine der DDR hat er einiges von der Welt gesehen, war im Mittelmeer unterwegs, auf Kuba und in Mexiko. Er war Kellner im damaligen Hotel Stadt Berlin am Alexanderplatz, heute Park Inn, und ab 1987 Restaurantleiter in der „Letzten Instanz“, zu diesem Zeitpunkt eine HO-Gaststätte. 1991 kaufte Sperling sie von der Treuhand. „Die Küche war in einem Zustand, das kann ich Ihnen gar nicht erzählen“, sagt er. Heute ist die „Letzte Instanz“ ein Familienbetrieb, Sohn André ist Küchenchef, Ehefrau Christa macht die Buchhaltung. Die Gäste sind in erster Linie Touristen, natürlich. Was sie bekommen? Echte Berliner Küche: Kartoffelsuppe, Eisbein, Sülze und Berliner Schnitzel. Nicht aus Kalb wie das Wiener, sondern aus Kuheuter: „Janz leck’ret zartes Fleisch“, versichert Sperling. Was es nicht mehr gibt: Stammgäste. Wo sollen sie auch herkommen? Die „Letzte Instanz“ liegt zwar in einem der ältesten Teile der Stadt, aber gewohnt wird hier schon lange nicht mehr. Man muss schon zu den Plattenbauten an der Alexanderstraße gehen, um wieder Wohnungen zu sehen. Zwar steht vor Napoleons Kachelofen ein Stammtisch, aber der hat eher symbolische Bedeutung. „Paule, der jeden Abend seine Molle trinkt, kommt nicht mehr“, sagt Sperling.

Dafür kommen andere. Ein Blick ins Gästebuch: Jacques Chirac ist auf den Spuren seiner Vorgänger gewandelt, Jack Nicholson – die Berlinale macht's möglich – hat sich verewigt, Nicholas Cage, The Doors, Jake Gyllenhaal („Blood Sausage? Great!“) und der größte deutsche Komiker („Hier ist Berlin. Es dankt Loriot“). Ob er auch im Biergarten saß, wird er uns nicht mehr erzählen können. Das Glockenspiel der Parochialkirche hat er sicher nicht gehört, das ist seit dem Krieg verstummt. Dafür vielleicht Vogelgezwitscher und Kinderlachen. Und das Rauschen der Grunerstraße. Den Klang der Gegenwart.

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