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Kubus aus Luft. Mitte der neunziger Jahre wäre hier fast ein Neubau hochgezogen worden. Heute wuchert im ausgeschachteten Baugrund das Grün.

© Mike Wolff

Berliner Häuser (6): Eichelkrauts Ecke

Phantomadresse mit bewegter Geschichte im Schöneberger Norden: die Brache Potsdamer- und Alvenslebenstraße und ihr dunkler Zauber.

Nachts schlafen die Ratten doch. So trostreich sagt’s ein älterer Mann zu einem Kind in Wolfgang Borcherts berühmter gleichnamiger Kürzestgeschichte. Denn der Neunjährige hält nachts immer Wache an dem zerbombten Haus, in dessen Trümmern sein vierjähriger Bruder liegt. Und von den Toten, das habe sein Lehrer gesagt, „da leben die Ratten doch von“. Darauf der Mann: „Ja, hat euer Lehrer euch denn nicht gesagt, dass die Ratten nachts schlafen?“

Magida Korshid weiß es besser, aus eigener Anschauung, im Schöneberger Norden und heute. „Abends kommen sie raus, die Ratten“, sagt sie und deutet auf das leer geräumte Kriegstrümmerareal hinter den Werbewänden, deren angefressene Ränder sie mit Ziegelsteinen verbarrikadiert hat. Seit acht Jahren betreibt die Exil-Irakerin nebenan das Falafel-Lokal „Tamara“. Sogar den kleinen Blumengarten, den sie rund um den Straßenbaum vorm Haus pflegt, hat sie mit feinem Drahtzaun gegen die Ratten und anderes Ungeziefer gesichert. „Die haben keine Angst vor nichts“, sagt sie. Sogar in die Parterrewohnung im Hof seien sie rein, „da sind die Mieter, ein kleines Kind hatten die, gleich wieder ausgezogen“.

Es liegt kein Segen auf dem Eckgrundstück Potsdamer Straße 149/Alvenslebenstraße 1, so ist die Adresse in den bezirksamtlichen Stadtplänen verzeichnet. Aber ein Zauber doch, einer der dunkleren Art. In den siebziger bis frühen neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts wurde die Potsdamer Straße, hässlich wie ein kaputtes Gebiss, zwischen Kleistpark und Landwehrkanal saniert, und nur diese Lücke ist bis heute geblieben. Ein Gespensterhaus scheint im Gehäuse der beiden Brandmauern zu schweben, ein Phantomhaus, ein erträumtes, ein geplantes, ein zwischendurch sogar mal vorhandenes. Einstweilen hausen in der Brache eben die Ratten. Einen Neubau mag sich Magida Korshid kaum mehr vorstellen. „Am besten alles mit Zement zumachen, ein paar Stühle hin“, sagt sie, „ein Park“. Und fertig ist. Und gut, oder zumindest besser.

Komische Gegend, raue Gegend. Von der Pallas- und Goebenstraße, flankiert durch den Sozialpalast und einen türkischen Supermarkt, wachsen der ewigen Lücke vor allem levantinische Kneipen und Kuriosa wie der „Atlantik Fischladen“ und die uralte „Apotheke am Sportpalast“ entgegen. Am Club „Ex’n’Pop“ wuchert vor dem „alternativen Hausprojekt“, das unlängst stolze 30 Jahre Erstbesetzung feierte, allerlei Grünkraut aus zwei grün bemalten Badewannen. Und neben der Lücke, wo Optiker Wunder noch 2005 seine 100 Jahre im Kiez feierte, lockt die „Sportsbar Real“ mit „23 h open“. Open? Die Polizei, davon künden Siegel an der Metalltür, hat das Ding unlängst dichtgemacht.

So geht das hier, ein unablässiges Werden und Verschwinden, nur die Lücke, so scheint’s, bleibt ewig. Von der Bülowstraße her ein ähnliches Bild: Telefonläden, Wettbüros, Imbisse. Mittendrin, immerhin eine Institution, das Frauencafé Begine und neuerdings das Hotel „Potsdamer Inn“, das sein grundsolides Straßencafé mit eng stehendem Lattenzäunchen gegen den Restbürgersteig verteidigt. Schräg gegenüber, an der Einmündung der Winterfeldtstraße, machen gerade draußen auf den Stufen zwei Angestellte vom „Ebony Hairdresser“ Pause. Sie könnten sich, wo jetzt die Lücke ist, ein „ganz tolles Haus“ vorstellen, unten Läden und darüber Apartments – „ist doch ’ne super Lage!“

Stadtbekanntes Delikatessengeschäft in der Geisterecke

Schon. Auf ’ne Art. Ganz früher, vor dem Krieg, als die Potsdamer eine der Berliner Prachtstraßen war, residierte hier ein stadtbekanntes Delikatessengeschäft. Und heute ist der Potsdamer Platz, wo Berlin zumindest für die Touristen Mitte spielt, nicht wirklich weit weg, aber auch nicht wirklich nah dran. Geradezu putzig aber wirkt der Kiez zwischen Bülow und Goeben im Vergleich zu seinen allerwildesten Zeiten im alten West-Berlin. Vor 30, 40 Jahren flackerte hier die trübste Funzel im Schaufenster des Kapitalismus, ein Zuhause für Junkies, Prostituierte jederlei Geschlechts, Trebegänger, Hausbesetzer und zeitweilig Hunderte von Asylbewerbern, für deren Wuchermieten in einstigen Bordellzimmern das Sozialamt aufkam. Und die Polizei? Immer in der Nähe. Immer dabei.

Damals tobt das Leben, vor allem das Nachtleben, auch auf dem Grundstück zwischen den beiden Brandmauern, und wie. Denn die Brache ist keine, zeitweise und zwischendurch. Auf der Fläche der abgeräumten vierstöckigen Kriegsruine, deren Grundriss sich noch heute auf der Brandwand abzeichnet, steht ein Baulückenschließer der sonderbaren Art: keine bloße Ladenzeile wie zumeist im kaputten Berlin, sondern zweistöckig. Hier, mitten auf der verruchtesten Sechstelmeile der Sexmeile namens Potse, thront das legendäre „Eichelkraut“. Der Name steht nicht dran, aber jeder nennt es so. Bei seiner Erwähnung ziehen Zeitzeugen noch heute gern beziehungsreich die Augenbrauen hoch, womit – aha! – die Nutzung der zweiten Etage ebenfalls geklärt sein dürfte.

Doch was kann der Gastwirt Gustav Eichelkraut dafür, dass er Gustav Eichelkraut heißt? Mehr als vierzig Jahre lang ist er hier Kneipier, sieht nebenan das „Costa Rica“ florieren und den „Nachtfalter“ verglühen, und eines Tages heißt seine Kneipe, flankiert von zwei Spielcasinos der Hintertreppenart, „Zum alten Berliner“. Als er genug Geld beisammen hat, will er groß bauen auf dem Gelände – und stirbt darüber. Doch dann, 1995, wird das geduckte Eckhaus mit den längst erblindeten Berliner Fenstern tatsächlich abgerissen, das Grundstück ausgeschachtet, Pläne gibt es, eine Baugenehmigung, hurra, fast geisterhaft geht jetzt alles ruckzuck. Ein Grazer Architektenbüro entwirft sechs Etagen für Banken und Versicherungen, obendrauf ein Penthäuschen, alles schick und modern, ein Schmuckstück für zehn Millionen Mark, drei Stockwerke Glasfassade und darüber ein „zur Straße hin gewölbter Aufsatz“. Ein Traumhaus fast, so begeistert schreiben damals die Zeitungen.

Werbefläche statt Neubau

Ja, da träumste von. Noch heute. Denn eines fehlt wie damals: ein Investor. Legenden ranken sich seither um die Lücke, eine „Unübersichtlichkeit“ kehrt ein, sagen die Fachleute im Rathaus Schöneberg, die ihre hofseitigen Büros zwischen den Paternostern mit Würde verwalten. Und ein gewisses amtliches Desinteresse auch, schließlich kann der Bezirk, seit die Gegend fertig saniert ist, niemanden mehr zur Bebauung seines Grundstücks nötigen. Ein Konkurs? Ja, der wohl auch. Drei Zwangsversteigerungen, abgeblasen allesamt wegen zu geringer Gebote. Und vor ein paar Jahren, wissen Alteingesessene, wurde das Grundstück sogar mal im Netz angeboten – für 690 000 Euro. Ein Schnäppchen? Vielleicht. Nur: Der Markt will nicht. Nicht zum Nachwende-Boom, auch nicht nachher, das große Geld zieht vorüber und vorbei. Nur die Lücke, die ist immer noch da, und eine Bank im Westfälischen verwaltet die Reste.

So warten Magida Korshid und all die anderen weiter, die jeden Tag mit diesem Stadtraum leben, der fehlt. Aus ihren Fenstern gucken sie auf den Kubus aus Luft, sie gehen an den bunten Werbetafeln vorbei, wo eine Brauerei „Vorsprung durch Ursprung“ reklamiert und der CDU-Mann Frank Henkel „100 Lösungen für Berlin“ hat, aber keine für die Potsdamer, Ecke Alvensleben. Gleich nebenan empfiehlt die Deutsche Bahn, auch nicht schlecht, „Tapetenwechsel“, und wo einst die Zecher aus dem „Alten Berliner“ in die Nacht hinaustorkelten, schmückt sich heute eine Eismarke mit Cosma Shiva Hagen.

Aber dann ist, nach 16 Jahren, in denen bloß Bäume aus der Grube wuchsen und gefällt wurden, kürzlich doch was passiert. Eine Veränderung von außen, eine freche Aneignung. In eine der Brandwände hat Vhils, ein Street-Art-Promi und Kumpel des mysteriösen Banksy, von einem Sattelschlepper-Kran aus tagelang ein riesiges Porträt eingeritzt. Kann schon sein, sagen die Nachbarn, dass das Geld für die Aktion von einer Jeansfirma kam, deren aktueller Slogan jetzt auf der Wand prangt, aber immerhin nicht das Logo. Das Bild zeigt den Fotografen und in Berlin weltberühmten Berghain-Türsteher Sven Marquardt, und wenn hier nicht doch nochmal ein Neubau hochwächst, wird er damit glatt unsterblich.

Und die Ratten, die unermüdlichen Nachtschwärmer, mit denen diese Geschichte einer so bewegten, so vergessenen Ecke Berlins begann? Für sie hat Vhils eine schöne Spruchweisheit parat, vor Jahren verwendet bei einer Aktion in seiner Heimatstadt Lissabon. Auf Deutsch geht sie so: „Selbst wenn du das Rattenrennen gewinnst, eine Ratte bleibst du doch.“ Na, ein schmutziger kleiner Sieg, bei einem neuen Architektenwettbewerb zum Beispiel, könnte nicht schaden.

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