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Zeitlos. Die Turmuhr der ehemaligen Glühlampenfabrik hat nur noch einen Zeiger. Heute sitzen im „Carrée Seestraße“ in der Oudenarder Straße in Wedding Outlet-Center und Bildungseinrichtungen.

© Doris Spiekermann-Klaas

Berliner Höfe (4): Osram-Höfe in Wedding: Die Bildungsburg

Ach Industrie, wo bist du hin? In den Weddinger Osram-Höfen wurden einst Glühbirnen gefertigt – jetzt sind sie ein Campus.

So lange wieder eine Straßenbahn auf der Seestraße fährt, so lange fahre ich schon an den Osram-Höfen vorbei. Heute steige ich endlich mal an der gleichnamigen Haltestelle aus, spaziere über den dreieckigen Wilhelm-Hasenclever-Platz und gerate in die gelb-rote Klinkerfestung hinein. Die Osram-Höfe erinnern daran, dass Berlin einst ein bedeutender Produktionsstandort war. Hier im nördlichen Wedding zwischen Liebenwalder und Oudenarder Straße rauchten einmal die Schlote, hier wurde etwas hergestellt: Siegmund Bergmann begann um 1890 mit elektrischen Anlagen, 1904 kamen Glühlampen (sprich: Glühbirnen) hinzu.

Die junge Elektroindustrie, die New Economy des späten Kaiserreichs, errichtete sich feste Burgen – dabei versteckt sich auch in dieser hinter der Backsteinverkleidung eine Stahlskelettkonstruktion, die den Bau stützenarmer Fabrikationssäle erlaubte. Schöne eiserne Fenstergitter fallen mir auf, Sprossenfenster in den oberen Stockwerken. Ein Banner schreit „Vermietung!“

Ach, Industrie, wo bist du hin? Zwei alte Schornsteine stehen noch auf dem ersten Hof, verschiedenfarbige Klinker zeichnen ein Muster ins Mauerwerk. Es sieht aus, als wären die Kamine aus Bauklötzchen erbaut, jede Fuge ist zu sehen. Werden sie, frage ich mich, nur von den sie umschlingenden Eisenbändern zusammengehalten? Fielen die Schornsteine sonst in sich zusammen?

Das Wort "Carrée" klingt hier im Wedding etwas möchtegern

1935 wurden die Bergmann-Electricitäts-Werke von der Osram GmbH übernommen und zu einem der größten Glühlampenwerke Europas ausgebaut. In seinen Hochzeiten waren hier mehr als 5000 Arbeiter beschäftigt, 1990 wurde die Produktion an diesem Standort eingestellt. Heute kommen die meisten Glühlampen aus China.

„Lassen Sie sich von unseren Auszubildenden verwöhnen“, heißt es jetzt in dem Schaukasten, der auf das Ausbildungsrestaurant der SOS-Kinderdörfer im vierten Stock hinweist. Jeden Tag gibt es Mittagstisch für 4,50 Euro. Es gibt auch einen Hoffriseur, seit über zehn Jahren schon werden im SOS-Berufsausbildungszentrum junge Menschen im Friseurhandwerk ausgebildet. Ich könnte mir die Haare schneiden lassen – ist gerade aber gar nicht nötig.

Unbemerkt bin ich in den Teil der Höfe geraten, die unter Namen „Carrée Seestraße“ firmieren. Höre ich den Straßennamen, muss ich immer an endlose Monopolyspiele denken: „Rücken Sie vor bis zur Seestraße“ befiehlt eine der Ereigniskarten. Das Wort Carrée gehört (weniger prätentiös geschrieben) zwar zum Berliner Jargon („einmal ums Karree“), klingt hier im Wedding jedoch ein wenig möchtegern, überhaupt transportiert es eine leicht altbackene Sehnsucht nach Mondänität, die Orte wie die ehemalige Zentralmarkthalle („Berlin Carré“, sic!) und das „Carrée Seestraße“ eher selten bieten.

Die Turmuhr steht still - immer auf Dreiviertel

Im LaLuz (einem Veranstaltungssaal mit Restauration) gibt es heute Mittag leider nichts zu essen, ein Transporter des „Charité Facility Management“ parkt auf dem Hof, im nächsten stehen einige Polizeiwagen. Ach ja, hier befindet sich der Polizeiabschnitt 35, Oudenarder Straße. Vor einigen Jahren haben sich – mir fällt das bloß ein, weil ich mir die kleine Meldung damals aus der Zeitung ausgerissen hatte – innerhalb einer Woche zwei Beamte dieser Wache mit ihren Dienstwaffen selbst getötet.

„Das Anbinden von Hunden ist auf dem Gelände verboten!“, sagt ein Schild. Zum Glück habe ich keinen Hund dabei. Verbundpflaster liegt auf dem zweiten Hof, in dem ein wuchtiger Turmblock sich an die Fassade lehnt. Wie hoch ist der Bergfried? Dreiunddreißig Meter? Der Turm trägt eine Uhr, deren Zifferblatt einem Zahnrad nachempfunden ist – allerdings hat sie nur noch einen Zeiger, diese Uhr. Und sie steht still, deshalb zeigt sie immer Dreiviertel. Dreiviertel von welcher Stunde, verrät der Zeiger jedoch nicht, es ist der große.

Die Ankermieter des „Carrée Seestraße“ heißen „Ulla Popken Lagerverkauf“ und „Marc Cain Factory Outlet“. Ich betrete die Marc-Cain-Boutique und werde von einem Schild dazu aufgefordert, meine Tasche einzuschließen – zum Glück habe ich nicht nur keinen Hund, sondern auch keine Tasche dabei, weshalb ich schon nach wenigen Schritten tief im flauschigen grauen Teppichboden stehe und mich in gleich mehreren Spiegeln sehe. Neben meinem Spiegelbild erkenne ich nur weibliche Kundschaft und Verkäuferinnen zwischen Kleiderständern und weißen Lackmöbel-Elementen.

Die Dreharbeiten des nächsten Berlin-Films sollten hier beginnen

In einem weiteren Geschäft, einem Fachhändler für Schulmappen und Rollkoffer, entdecke ich mehr Ranzen und Tornister, als ich je zuvor gesehen habe. Schilder weisen darauf hin, es sei verboten zu fotografieren. Warum? Damit ich die hier begutachteten Taschen nicht später günstiger im Netz bestelle? Bunte Schulrucksackwelt, du erschlägst mich! Deine wilden Ornamente sind Verbrechen! Ich bekomme Angst, gleich wieder zur Schule zu müssen! Schnell hinaus, zurück auf den Hof, wo die Schüler der Charité Gesundheitsakademie während ihrer Pausen herumstehen und rauchen. Ein Aushang der Verwaltung bittet darum, Zigarettenkippen nicht in die Papiermülleimer zu werfen. Kürzlich erst habe einer der Abfallkörbe gebrannt.

Ob die Pflegeschüler sich hin und wieder mit den Studierenden auf der anderen Seite der Oudenarder Straße treffen? Auf dem Aldi- und Netto-Parkplatz des nördlichen Hofgeländes sind, ebenfalls rauchend, einige auffallend gutaussehende junge Menschen zu sehen. Es müssen die Schüler des „Institut für Schauspiel, Film und Fernsehberufe an der VHS Berlin Mitte“ sein. Als warteten sie darauf, dass ihre Karriere nun gleich losgehe, lungern sie in der Industriekulisse herum, hinter ihnen sind alte Lastenaufzüge und erblindete Fensterflächen zu sehen, die gelb-roten Klinker bilden einen malerischen Hintergrund. Die Dreharbeiten des nächsten Berlin-Films sollten hier beginnen. Seine Darsteller sitzen schon da.

Hübsch, diese Nicht-Pfeiler!

Ja, die frühere Glühlampenfabrik ist heute ein Campus. Aus der festen Burg der Elektroindustrie ist nicht nur ein halbes Outlet-Center, sondern auch ein Ort der Bildung geworden, sogar die Beuth Hochschule für Technik hat hier Laboratorien und nennt ihren Standort „Forum Seestraße“. Und es gibt noch eine weitere Akademie, sie trägt den geheimnisvollen Namen „Meco“. Was wird dort wohl gelehrt? Meine wildesten Fantasien enden leider abrupt, als mein Telefon verrät, dass es sich um eine private Fachschule für Sozialpädagogik und Altenpflege handelt. Ach so.

Auf dem Weg Richtung Leopoldplatz bewundere ich die moderne Außenfassade des Zwischenkriegsbaus an der Ecke Groninger und Oudenarder Straße. Dieser Teil der Osram-Höfe verbindet die beiden älteren Fabrikgebäude – und ein bisschen sieht es so aus, als wäre ein Stück vom Turiner Lingotto im Wedding gelandet. Der Architekt Waldemar Pattri hat die beiden unteren Geschosse mit violetten und gelben Klinkern zu einem massiven Sockel zusammengefasst, die Fenster sind als große Öffnungen ins Mauerwerk geschnitten. Auf dem Sockel sitzt ein vollkommen verglaster Kubus, dem schlanke, außen vorgesetzte Pfeiler eine vertikale Ordnung verleihen. Der Witz des Gebäudes besteht jedoch darin, dass diese Pfeiler an der Oberkante des Sockels expressionistisch austropfen. Es sind eigentlich gar keine Pfeiler. Sehen aber hübsch aus, diese Nicht-Pfeiler.

Gut, dass ich endlich mal an der Haltestelle Osram-Höfe ausgestiegen bin.

David Wagner, Jahrgang 1971, lebt als Schriftsteller in Berlin. Für „Leben“ erhielt er 2013 den Preis der Leipziger Buchmesse. 2014 hat er zusammen mit Jochen Schmidt „Drüben und drüben. Zwei deutsche Kindheiten“ veröffentlicht.

Weitere Texte unserer Sommer-Reihe "Berliner Höfe" finden Sie unter www.tagesspiegel.de/themen/berliner-hoefe

Letztes Jahr präsentierten wir an dieser Stelle die Reihe "Berliner Türme". Alle Texte dazu finden Sie unter www.tagesspiegel.de/berliner-tuerme

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