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Musikalisch ein perfektes Paar. Bob Mintzer, Leiter und Arrangeur der WDR Big Band, und die Sängerin Jazzmeia Horn.

© Camille Blake

Berliner Jazzfest: Requiem für einen Pionier

Afrofuturismus und andere Verschiebungen von Zeit und Ort: Das Berliner Jazzfest ist zu Ende gegangen. Eine Bilanz.

Von Gregor Dotzauer

Vielleicht ist es nicht mehr als das. Ein paar kristalline Töne, die den Nachthimmel im Haus der Berliner Festspiele erhellen. Am Firmament aufgehende Klanggestirne, zwischen denen Äonen zu vergehen scheinen, obwohl sie höchstens Sekunden trennen. Man kann ihre Gestalt, wie sie der Gitarrist Bill Frisell bei seinem Soloauftritt zum Abschluss des Berliner Jazzfests im Dämmer herstellt, technisch beschreiben: die halligen, im Raum stehenden Nonen, die im Flangersound eingestreuten Sekundreibungen, die melodiöse Sextenseligkeit, die Flageoletts, die als Durchgangstöne oder Tupfen auf dem fertigen Akkord dienen. Und doch wird man der Stimme dieses virtuosen Anti-Virtuosen, der sich countryhafte Songs oder Thelonious Monks „Epistrophy“ gleichermaßen anverwandelt, nicht vollständig auf die Spur kommen.

In der Musik geht es immer um die Stimme – auch bei der Gitarristin Mary Halvorson, der diesjährigen Artist in Residence. Wenn sie zum Kehraus mit Frisell noch einmal auf die Bühne zurückkehrt, um „The Maid With The Flaxen Hair“ zu spielen, die Bearbeitung eines Debussy-Préludes, hört man eine vergleichbare Zerbrechlichkeit. Sie gibt sich nur sprunghafter, kantiger und schräger – wie schon zuvor mit ihrem Oktett. Ob das an ihrer Generation liegt – mit 38 Jahren ist Halvorson in den befreiteren Jazzzonen gerade everybody’s darling –, ist zweifelhaft. Der heute 67-jährige Frisell, in anderen Zusammenhängen auch mal mit einem hendrixähnlichen Furor begabt, verfügte wohl nur immer über ein ausgeglicheneres Temperament.

Oder der 78-jährige Roscoe Mitchell, das letzte ungebrochen aktive Mastermind des Art Ensemble of Chicago. Wie er auf dem Sopransaxofon konsequent atonal „The Black Drop“ begleitet, ein Gedicht der bestenfalls halb so alten Spoken-Word-Furie Camea Ayewa alias Moor Mother aus Philadelphia, hat einen Eigensinn, der in dieser Form mit ihm aussterben wird, aber noch auf Jahrzehnte hinaus Musiker inspirieren wird. Kein Ton kommt hier ungeschoren als derjenige davon, der er sein könnte. Sie alle sind verbeult, gespalten, verquakt, das aber so artikuliert, dass eine menschliche Sprache entsteht, die von Mitchells sperriger Instrumentalstimme getragen wird.

Große schwarze Dichter

Wie alle anderen markanten Stimmen lässt sie jeden programmatischen Schwerpunkt hinter sich – und sprengt sämtliche politischen Anliegen. Mit der Chicagoer Szene und dem Afrofuturismus fiel das im ersten Jahr von Kuratorin Nadin Deventer mehrfach zusammen. Aber wenn die junge Trompeterin Jaimie Branch den Triumph ihres ebenso lässig-souveränen wie stürmischen Auftritts mit einem Cello, Bass und Schlagzeug umfassenden Quartett mit den Worten „This music fights fascism“ krönt, ist das in seiner selbstverständlichen Widerständigkeit so überflüssig wie Moor Mothers Militanz penetrant.

Die Poeme ihres Debütalbums „Fetish Bones“ und des gleichnamigen Lyrikbandes beerben die großen schwarzen Dichter, von Langston Hughes bis zu Maya Angelou, von Amiri Baraka bis zu Eugene B. Redmond, dem wütenden Mann aus East St. Louis. Im Noise- und Rap-Umfeld, in dem sie sich meist bewegt, gewinnen sie Aktualität und reichen in ihrer antiimperialistischen Dauererregtheit dennoch nicht an die Ahnen heran. Im Verbund mit dem Free Jazz von Irreversible Entanglements, der mit Altsaxofon, Trompete und Schlagzeug alles niederbrennt, was sich ihm an Gelegenheiten zum Innehalten entgegenstellt, stellt sich bei aller Bewunderung für die athletische Leistung schnell Ermattung ein. Von farblichem Reichtum dagegen das multimediale Projekt, das der Pianist Jason Moran für sein Bandwagon-Trio mit Tarus Mateen am E-Bass, Nasheet Waits am Schlagzeug und ein siebenköpfiges Bläserensemble konzipiert hat.

„James Reese Europe & The Absence of Ruin“ huldigt einem afroamerikanischen Urvater des Jazz, der in seiner Bedeutung für den Ragtime und die Marching Bands heute fast vergessen ist. Der 1881 geborene Pianist stammte aus Alabama, fand sein Betätigungsfeld aber von 1904 an in New York, wo er dafür sorgte, dass sich schwarze Musiker unter seiner Obhut organisierten. Im Ersten Weltkrieg zog er mit dem 369. Infanterieregiment, den sogenannten Harlem Hellfighters, nach Europa und spielte in Frankreich umjubelte Konzerte. 1919 verblutete er an einem Stich, den ihm sein unzufriedener Schlagzeuger am Hals versetzt hatte.

Zu oft unentschlüsselbaren Bildern der Filmemacher John Akomfrah und Bradford Young hat Moran eine Art Requiem komponiert, das Originalkompositionen von Reese mit Eruptionen der Bläser und eigenen weihevollen Melodien kombiniert. Wenn sich am Schluss alle um den erleuchteten Flügel versammeln und an den Händen fassen, ist das nicht nur ein Blick in das Grab von James Reese Europe. Er gilt auch dem Trompeter Roy Hargrove, jenem young lion, der tags zuvor überraschend im Alter von 49 Jahren gestorben war. Ihm ist das Konzert, das zwischen Tradition und jüngster Gegenwart vermittelt, gewidmet.

Kriegsbemalter Voodoozauber

Der avantgardistische Jazz, den das Art Ensemble of Chicago, von Albert Aylers Spiritualität und Ornette Colemans Klangschichtungen kommend, seit 50 Jahren pflegt, hat es da schwerer, ins 21. Jahrhundert zu gelangen. Neben Roscoe Mitchell, der nach Kräften den Geist des „Ancient to the Future“ zu bewahren versucht, ist von der legendären Besetzung nur noch ein sichtlich geschwächter Famoudou Don Moye am Schlagzeug dabei. Vom kriegsbemalten Voodoozauber, mit dem der verstorbene Trompeter Lester Bowie (im weißen Arztkittel), Saxofonist Joseph Jarman (heute im Ruhestand als buddhistischer Priester) und Bassist Malachi Favors (verstorben 2004) einst antraten, ist nicht mehr viel zu spüren. Das Art Ensemble lebt mit Flötistin Nicole Mitchell, der italienischen Bassistin Silvia Bolognesi, dem Trompeter Hugh Ragin oder der Halbberliner Sängerin Christina Wheeler nach wie vor von hervorragenden Musikern. Doch aus dem Taumel schamanistischer Ekstasen hat es in die Gefilde einer europäischen Kunstmusik gewechselt, für die ein klassisches Streichtrio mit Geige, Viola und Cello nur das sichtbarste Zeichen ist.

Ein anspruchsvolles Programm, das zumindest auf der Hauptbühne nie das bloß Gefällige suchte. Mit der 27-jährigen Sängerin Jazzmeia Horn und der Big Band des WDR unter dem Saxofonisten Bob Mintzer war dennoch ein saftiges Vergnügen dabei – nicht ohne den „Social Call“ aus den Augen zu verlieren, der Horns erstem Album den Titel gibt. Horn ist nicht so intonationssicher wie ihre zwei Jahre ältere Kollegin Cécile McLorin Salvant, aber mit einem überschäumenden Charisma begabt. Ein Fest des Scattens im Dialog mit den Solisten – und das Glanzlicht über Mintzers Arrangements. Brave Standards wie „I Remember You“ gleißen hier ganz unverbraucht.

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