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Sophie Hunger

© dpa

Berliner Konzertmarathon mit Sophie Hunger: Trost finden in der Sündenstadt

Die Schweizer Sängerin Sophie Hunger gibt sechs Konzerte in verschiedenen Berliner Bezirken – und spaziert durch ihre Wahlheimat Kreuzberg.

Warum macht sie das? Sechs Mal hintereinander in derselben Stadt spielen? Ihr Team müsste da doch die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Mein Gott, Frau Hunger, müsste es sagen, so rechnen Sie doch mal! Hotelzimmer für die Band, für fünf Tage? Und das, wo man die Fans doch alle mit einem Mal in einer großen Halle abfertigen könnte. Ein Auftritt. Nur eine Hotelnacht. Und fertig.

Sophie Hunger lacht. „Ja, warum mache ich das?“, fragt sie, auf Kreuzberger Asphalt stehend, und sagt: „Ganz einfach, weil es wichtig ist, unlogisch zu sein, weil es wichtig ist, ineffizient zu sein.“

Diese Sophie-Hunger-Festspiele, sie sind ihre Form von Systemkritik. Ihr „Nein“ zur verdammten Gradlinigkeit. So ist der Mensch doch nicht. So ist das Leben doch nicht. Und Sophie Hunger, die ist so auch nicht. Sagt sie. Sie sei jemand, der durch das Leben stolpere. Sie, die Schweizerin, die Klavier, Gitarre und Mundharmonika spielt, die Songwriterin, die Filmmusikkomponistin, die seit ihrem 24. Lebensjahr von der Musik lebt, nebenbei aber auch noch ein Literaturstudium mit einer Arbeit über die Performanz bei Richard Yates abgeschlossen hat.

Ihr Vater war Bienenforscher

Die Tochter eines Bienenforschers, die in der „Zeit“ mal einen Brief an Thomas Bernhard schrieb, der eine Rezension der Salzburger Festspiele sein sollte, eigentlich aber selbst Kunst war. Literatur, die in diesen wunderbaren Sätzen gipfelte: „Thomas Bernhard, ich sitze im Zug in die Wüste. Nach Salzburg gibt es nichts, keine Zivilisation kann mich noch halten. Ich habe ihre Spitze gesehen, und verloren. Und wenn die Welt auch untergeht – Salzburg wird’s nicht merken.“

Sophie Hunger, die angejazzten Folk-Pop macht, und gerade ihr sechstes Studioalbum „Molecules“ (Caroline) veröffentlicht hat, um damit eben sechs Mal hintereinander in Berlin aufzutreten, die sagt also, sie stolpere durch das Leben.

Von innen sieht immer alles so viel kleiner aus, als von Außen. Es muss so sein. Sicher, sagt sie, ist da auch Arroganz dabei. Also bei den sechs Terminen könne ja keiner mehr sagen, dass er nicht kann, denn kann er am Dienstag nicht, kann er am Mittwoch kommen. „Ich besetze die Stadt“, sagt sie. Sie hat das schon mal gemacht 2013, und sie sagt, es war wie ein Rausch. Geschlafen hat sie nie, aber müde war sie auch nicht.

Das Adrenalin sei ihr wie ein Feuerwerk um die Ohren geflogen. Ein Riesennarzissmus, natürlich, ja, ja, klar, sagt sie. Aber darum geht es eben, in der Kunst. Im Leben. Es geht darum, gehört zu werden, gesehen zu werden. Wir alle sollen nun Zeugen sein.

Hundert Tage Kreuzberg

Hunger wohnt in Kreuzberg. Hundert Tage im Jahr. Höchstens. Sie ist nie wirklich da, immer woanders. Sie hat auch eine Wohnung in Paris. Aber es sei ein Lotterleben, das sie führe. Manchmal, denke sie, oh Gott, ich lebe immer noch wie mit 18. Das Zeug liegt auf dem Boden und auf dem Balkon wächst nichts, und ihr Name steht auch nicht am Briefkasten. Es koste viel Energie so ein ungeordnetes Leben, denn wenn keine Struktur da ist, müsse man sich eben immer wieder eine schaffen. Wenn alle Menschen wären wie ich, sagt Hunger, hätten sich keine Städte gebildet.

Für das Album „Molecules“ hat sie eine klare Struktur gewollt. Regeln. Dieses Mal nur eine Sprache. Englisch. Dazu Synthesizer, Beats, Gesang und Gitarre. Denn hinter Vielfalt, sagt sie, kann man sich auch verstecken. Man braucht Klarheit, um eine Konfrontation zu schaffen. „Molecules“ kommt mit einer Wucht, als wenn man eine Boccia-Kugel durch ein Zuckerglas schmeißt. Was bleibt sind einzelne Bestandteile.

Sie hat eine Trennung hinter sich, mit der sie sich auch von einem Kind trennen musste, also von dem des Freundes. Aber wenn sich das eigene Leben an die Wand schmeißt, dann bleibt eben doch was zurück. Seine kleinsten Teile. Und so findet sich Plastik in ihren Lyrics, Plutonium, Zelluloid und Vinyl. Sie sagt, sie wollte ein Vokabular, das die Welt, in der wir heute leben, beschreibt. In der Popmusik benutze man noch viel zu häufig Begriffe aus dem 20. Jahrhundert. Holz, Blut, Erde, Luft, Regen. Unsere Welt bestünde aber doch aus anderen Stoffen. Und elektronisch wie unsere Welt halt heute ist, so klingt auch „Molecules“.

Molekulares Berlin-Album

Es ist ihr Berlin-Album. Als sie vor vier Jahren hierher zog, hat sie angefangen nach deutschen Musikspuren zu suchen. Bei Tangerine Dream, dem Ursprung der deutschen, elektronischen Populärmusik ist sie hängengeblieben. Einen Song widmet sie der Stadt. Er heißt „Electropolis“. Hier bricht sie ihre Sprachmonogamie, spricht doch noch eine deutsche Zeile: „In deinen Sünden Trost zu finden, Berlin, du deutsches Zauberwort.“ Was klingt wie Eichendorff und Spätromantik, das ist Sophie Hungers Jetzt. Was ist so tröstlich an Berlin?

Sie sagt, sie hat hier viele Menschen kennengelernt, die ähnlich leben wie sie, eben die, die verstreut stolpern. Berlin sei immer noch eine Stadt, die sich wehrt gegen den Ultrakapitalismus. Berlin, das sei noch immer ein Ort an dem man, in aller Liebe scheitern kann.

Zeit heilt nichts, singt sie wieder auf Englisch in „Electropolis“. Stimmt das? Man vergisst, sagt Hunger, aber heilen tut doch nichts. Und Zeit gäbe erst recht nichts zurück. Das wisse sie, sobald sie nur an Familienfotos von früher denke. Da war der Morteratsch riesengroß im Hintergrund, nun sei der Gletscher nur noch ein kleines Zipfelchen. Aber immerhin kann sie, die Künstlerin, aus dem, was nicht mehr heilt, Musik machen.

Ja, sagt sie, aber es ist perfide, dieses echte Material zu nehmen. Wenn man über eine Trennung singt, dann erzählt man nur seine Perspektive, und das ist eine Form von Machtausübung. Man dominiert die Geschichte, denn der andere hat keine Stimme, kann nicht zurücksingen. Sie besteht nicht auf Wahrheit in der Kunst. „Ehrlichkeit ist auch nicht näher an der Wahrheit als eine gut gemachte Lüge“, sagt sie und hat damit natürlich recht. Sechs Mal.

Konzerte: 15.9., Kesselhaus; 16.9., Festsaal Kreuzberg; 17.9., Heimathafen Neukölln; 18.9., Columbia Theater; 19.9., Berghain Kantine; 20.9.,SO 36, jeweils 20 Uhr

Julia Friese

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