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Berliner Lebensadern: Müllerstraße: Die Mühlen der Ebenen

Getreidemühlen gaben der Müllerstraße in Wedding einst ihren Namen. Heute prägen Spielhallen das Bild des Boulevards, als böte das Glücksspiel den Einheimischen eine reiche und sichere Einnahmequelle.

Kommt man vom U-Bahnhof Kurt-Schumacher-Platz, hat man noch ein Stück Scharnweberstraße zu absolvieren. Und hier ergeht es einem wie so oft in Berlin: Man denkt, jetzt ist die Stadt zu Ende. Die Wohnanlagen des Afrikanischen Viertels – manche Bauten stammen von Mies van der Rohe, von Bruno Taut, Heroen der Architekturmoderne – sprechen eine deutliche Sprache: Vorstadt, Stadtrand. Hier lebten Onkel Alfred und Tante Erika, in der Swakopmunder Straße, und wenn Mutter mit ihrem Sohn mal wieder nach Berlin reiste, wohnte man bei ihnen.

In der Eckkneipe Müllerstraße/Afrikanische pflegte Onkel Alfred gemütlich sein Feierabendbier zu trinken, nach dem Dienst bei der Polizei. Man sah es dem dicken, lustigen Mann nicht an, dass er die Schrecken der sowjetischen Kriegsgefangenschaft hinter sich und eines Tages im Jahr 1949 hier urplötzlich vor der Tür seiner Frau gestanden hatte, die das Gespenst nur mit Mühe wiedererkannte – stets laden die Erinnerungen, die an diesen Straßen haften, zu ausgiebigen Abschweifungen ein.

Jetzt besetzt die Eckkneipe an der Afrikanischen Straße so eine Café-Cocktailbar mit karibischem Namen, und auf der anderen Seite der Müllerstraße locken Casinos zu einer persönlichen Geldvermehrung, die stets auf Geldverminderung hinausläuft. Die Flachbauten sind keine in den frühen 50ern ausgebauten Kriegsruinenreste, wie man sie so lange in der Stadt sah, sondern Teil der Neubauanlage. Übrigens findet sich unten, wenn man dem U-Bahnhof Wedding zustrebt – eilig, denn es ist eiskalt – wieder ein Automatencasino, als böte das Glücksspiel den Einheimischen eine reiche und sichere Einnahmequelle. Mutter hätte das missfallen, denn Mutter strebte sozial weiter nach oben, und der Wedding war deshalb sowieso verboten, schon damals, als er sich altdeutsch- kleinbürgerlich gab. Mutter war in Kreuzberg aufgewachsen und heilfroh, in eine bildhübsche kleine Stadt des westlichen Mitteldeutschland entkommen zu sein.

Rateitschak – diese Bäckerei-Konditorei existiert immer noch, was ja stets das Herz erwärmt. Damals, vor mehr als 50 Jahren, pflegte hier Tante Erika dem Knaben aus Westdeutschland ein Eis am Stiel zu spendieren, das zur Hälfte mit Schokolade überzogen war, luxe et volupté. Im Weitergehen beschäftigte den Knaben dies Palastrevier, diese unwahrscheinliche Wohnanlage, die zugleich den Straßenbahnbetriebshof beherbergte – heute der Busbetriebshof der BVG –, rötliche Klötze mit der Ausstrahlung überirdischer Macht, die die beiden sie überragenden Turmbauten noch steigern. Der Knabe las damals Sagen und malte sich aus, welcher mächtige Herrscher hier residierte – womöglich der Imperator from outer space, tatsächlich ähnelt die Anlage (Jean Krämer, 1925–27) den Architekturen, in denen viele Jahre später George Lucas seine Star-Wars-Filme spielen lässt. Das Winterlicht des Nachmittags verklärt die Palastanlage schon gar, und wer von diesem Monster auf Karl Friedrich Schinkels Alte Nazarethkirche am Leopoldplatz zu sprechen kommen möchte, um sich bei ihrer romanischschlichten Hübschheit auszuruhen, sollte mal Schinkels Entwürfe für einen Palast auf der Akropolis oder für das Hermannsdenkmal anschauen, Opferfeuer aus vorkragenden Schiffsschnäbeln: Schinkel zählt unbedingt zu den Gründungsvätern der Fantasy-Architektur.

Jetzt ist es schon abendlich dunkel am Leopoldplatz, und vor der Alten Nazarethkirche findet Markt statt. Kopftuchomas und ihre traurig-würdigen Männer; ich schaue nicht richtig hin. Mutter hätten sie vermutlich gefallen, die vielen Ausländer der ersten bis dritten Generation, weil sie den altdeutschen Muff des Wedding vertreiben. Eines Sommerwochenendes, als ich mit W. auf einem unserer heroischen Stadtspaziergänge – von Alt-Tegel zur Friedrichstraße – hier durchkam, erfreuten wir uns nach den nachmittäglich betrunkenen Kerlen von DeutschWedding an den höflichen und korrekten Bewohnern von Türkisch-Wedding. Hier genossen wir in einem anatolischen Restaurant – weiß gedeckte Tische, schwarz gekleidete Kellner – Fleischspieße und Grillteller, deren Wohlgeschmack die kleinbürgerliche Deutschküche meiner Kindheit nie erreichte. Klar, jede Menge Dönerias säumen die Müllerstraße; ebenso Haar-Paradiese und Nagelstudios, bei denen schwer zu entscheiden ist, ob sie bloß die Wünsche der Prinzessinnen mit Migrationshintergrund erfüllen oder auch die der alteingesessenen Arbeiterklasse. Womöglich ganz unauffällig die Wünsche beider Gruppen, weil die lower classes gleich welcher Herkunft derselbe Geschmack eint.

Ein schwerer Rentner bog auf seinem Motorrädchen in die Triftstraße ein und knurrte mich an, die Fußgängerampel zeige doch Rot. Vor einem Stehcafé zogen Raucher in der Kälte ihre Zigaretten durch, im Mittelpunkt eine im Solarium lebkuchenbraun gebackene Mittfünfzigerin mit blondiertem „Herrenschnitt“ (wie Mutter diese Frisur zu nennen pflegte), die ihre Kreise vermutlich als rattenscharf preisen. Eine dunkle Jungshorde bewunderte das Equipment, das ein Elektronikladen im Schaufenster anbietet; Frisuren und Klamotten, für unsereinen unlesbar, weiße Pumphosen, Lederstiefel, das Haar hinten mit Gel aufgezwirbelt. Ihr Großvater probierte, unter Aufsicht von Großmutter, im geretteten Karstadt missfarbene Sakkos an, in dieser traurigen Langsamkeit, die halt voller Würde ist. In der Parfümabteilung beriet ein junges und sehr mageres Paar – „nifterlich“ nennt man diese Physis in der hübschen Stadt, aus der Mutter zuweilen in den Wedding reiste – vergnügt über verschiedene Pflegeprodukte. In der großen Stadt ist Multikulti überall und schließt die Ureinwohner ein. – Von den architektonischen Sehenswürdigkeiten der Müllerstraße muss unbedingt noch das Rathaus Wedding Erwähnung finden (Friedrich Hellwig, 1928–30), ein Monument der Neuen Sachlichkeit, das inzwischen freilich klassizistische Schönheit angenommen hat mit seiner klaren Klinkerfront und dem Raster der vielen Fenster.

Sie heißt übrigens, habe ich gelesen, nach den vielen Mühlen, die hier einst standen, Müllerstraße. Früher hieß sie Straße nach Oranienburg, und so wird die Landschaft sichtbar, die hier früher lag. Und am unteren Ende, wo die S-Bahn sie überquert und die Chausseestraße anfängt, ist schon wieder diese Stadtrandsituation entstanden, aus der heraus wir sie oben, vom Kurt-Schumacher-Platz kommend, betraten.

Michael Rutschky

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