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Ausnahmeautor mit Breitenwirkung. Heinrich Böll.

© Horst Ossinger/p-a/dpa

Berliner Literaturforum: Heinrich Böll - ein Mann, der uns guttun würde

Wer hat Sehnsucht nach einer moralischen Instanz? Das Berliner Literaturforum feiert den Kölner Schriftsteller Heinrich Böll.

„Was hätte wohl Heinrich Böll dazu gesagt?“, fragte die Schriftstellerin Eva Menasse in ihrer Dankesrede zur Verleihung des nach ihrem großen Kölner Kollegen benannten Preises schon vor fünf Jahren. Man kann das ein gutes halbes Jahr nach seinem 100. Geburtstag im vergangenen Dezember nur wiederholen: Was hätte er gesagt zur grassierenden Politikverdrossenheit? Was zu einer Welt, in der Tausende auf der Flucht sind und Hunderte im Mittelmeer ertrinken? Und was würde Böll, der stets nach einer „bewohnbaren Sprache“ suchte, zur Unkultur von Begriffen wie „Asyltourismus“ sagen?

Den kleinen Hype, den der 1985 verstorbene Kölner Schriftsteller anlässlich seines Jubiläums noch einmal erlebte, hat das Literaturforum im Brecht-Haus noch einmal im Rahmen einer Böll-Woche aufgenommen. Jenseits der Peinlichkeitsgefühle, die Böll bei manchen Nachgeborenen ausgelöst hat - Rainald Goetz schmähte ihn und Günter Grass einmal als „präsenile Chefpeinsäcke“ –, befragte der die Reihe kuratierende Literaturwissenschaftler Ralf Schnell von Montag an die Jüngere nach dem Einfluss Heinrich Bölls auf ihr Schreiben. Er aktivierte die Erinnerungen von Zeitzeugen und ließ Werk und Wirkung noch einmal auf ihre Aktualität prüfen.

Eine überraschende - und generationenübergreifende - Feststellung der ersten beiden Tage lautete: Eine moralische Instanz wie Böll, ein derart nachdenklicher, mutiger, engagierter und gleichzeitig immer freundlicher Einmischer fehlt. „Böll hat der BRD gutgetan und würde uns aktuell guttun“, erklärte Fritz Pleitgen, der Böll in der Sowjetunion traf und beim WDR mit ihm zu tun hatte. Er liegt damit auf einer Linie mit der 1968 geborenen Schriftstellerin Tanja Dückers.

Brückenbauer in vielfacher Hinsicht

Böll fehlt aber auch als „Internationalist“, als einer, der zwischen den Machtblöcken von Ost und West surfte, den demokratischen Sozialismus in der Tschechoslowakei unterstützte, die Sowjetunion vorführte, etwa in einem harschen Essay über die „akustischen Aggressionen“ gegen Lew Kopelew. Zugleich war er kein Anti-Kommunist: Seine Bücher fanden sowohl in der DDR als auch in der Sowjetunion weite Verbreitung. In der DDR Böll zu lesen, erinnerte sich der Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer, bestätigte einen darin, „warum wir nicht in der BRD leben wollten“. Der sozialistische Realismus sei in seinen Büchern plötzlich ohne jede Ironie dahergekommen.

Vielleicht wurde deshalb Irland Bölls Sehnsuchts- und Rückzugsort, diese Insel am Rande Europas, fern der großen Politik. Die in Limerick tätige Germanistin Gisela Holfter, die das eher anekdotisch gestimmte (Altherren-)Gruppenbild mit Dame vervollständigte, berichtete über das zu Bölls Lebzeiten gelegentlich irritierte Verhältnis der Grünen Insel zu ihrem Gast, der mittlerweile als einer ihrer ganz Großen gewürdigt wird. Das „Irische Tagebuch“ fungierte als Brücke vom Festland zur Insel. Kein deutscher Irland-Besucher, der es nicht im Gepäck gehabt hätte.

Ein Brückenbauer war Böll in vielfacher Hinsicht, als Mensch und durch sein Werk, in dem die deutsche Geschichte des 20. Jahrhundert aufgespannt ist. „Großartig“ und „modern“ empfand der Heidelberger Literaturwissenschaftler Helmuth Kiesel hellauf begeistert seine Relektüre von „Billard um halb zehn“ (1959). Die drei Generationen umfassende Geschichte beleihe, so Kiesel, die avantgardistische Erzähltradition der zwanziger und dreißiger Jahre und sei mit Kritik und Abgesang der Bürgerlichkeit ganz auf der Höhe der Zeit.

Man sollte seine Komplexität nicht übersehen

Dass sich darin schon Bölls Neigung zu dualistischen Bildern und Vorstellungen offenbart – in diesem Fall religiösen und politischen , bestätigt auch der Durchgang der Theologin Annika Schmitz durch „Gruppenbild mit Dame“ (1972). Der Roman erzählt die multiperspektivisch „überkonstruierte“ Geschichte der gutherzigen, aber etwas unbedarften Leni Pfeiffer von der Zeit des aufkommenden Nationalsozialismus bis in die Nachkriegswirren hinein. Allgegenwärtig ist hier die christliche Motivik, die Überhöhung von Natur und Heimat und eine „subversive Madonna“ (Christine Hummel), die das herkömmliche bürgerliche Frauenbild bedient.

In „Frauen vor Flusslandschaft“, dem 1985 posthum erschienenen letzten Roman, führt Böll die früheren Elemente von Neuem zusammen – und scheitert. Darin stimmen alle drei überein. Böll habe die Schichten formal nicht mehr zu bändigen verstanden und sei sogar in den Kitsch abgeglitten. Doch Bölls vehemente Frage nach dem Entwicklungspotential seiner Figuren, sein Verzicht auf Feindbilder und die Art, wie er Geschichte ins Alltagsbewusstsein hebt, machen ihn noch immer zu einem Ausnahmeautor mit enormer Breitenwirkung, abseits jeder öffentlichen Würdigung, die 1972 mit dem Literaturnobelpreis einen Höhepunkt fand. „Böll ist komplexer als gemeinhin angenommen“, resümiert Annika Schmitz. Auch das sollte man bei der Sehnsucht nach einer Figur wie ihm nicht übersehen.

Die Böll-Woche des Literaturforums im Brecht-Haus endet heute Freitag, 24.8., 20 Uhr, mit einer Diskussion zum Thema „ Einmischung erwünscht. Zur Figur des öffentlichen Intellektuellen“.

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