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Simon Rattle probt mit den Berliner Philharmonikern.

© dpa

Berliner Orchester auf Dirigentensuche: Die Sache mit dem Maestro-Kult

Nicht nur die Philharmoniker, auch das Deutsche Symphonie-Orchester und das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin suchen derzeit neue Chefdirigenten. Warum die Position des künstlerischen Leiters in der Klassik unverzichtbar ist.

„Berliner Failharmoniker“, twitterte der Komponist Johannes Kreidler nach der missglückten Chefdirigentenwahl vom 11. Mai. „To fail“ bedeutet im Englischen versagen, misslingen. Und ein Fehlschlag war die nach elfstündiger Marathonsitzung ergebnislos abgebrochene Kandidatenkür in der Tat: für die Außenwahrnehmung des Orchesters vor allem. In den Zeitungen weltweit begannen die Kultur-Kommentatoren, nun ganz grundsätzlich über den Stellenwert der Berliner Spitzentruppe in der Klassikwelt nachzudenken: „Vielleicht würde den Musikern die Entscheidung leichter fallen“, schrieb Alex Ross im „New Yorker“, „wenn sie sich klarmachten, dass diese Wahl nur eine sehr geringe Auswirkung auf den Verlauf der Musikgeschichte haben wird.“ Der im Vorfeld immer wieder angestrengte Vergleich der Rattle-Nachfolge mit einer Papstwahl sei darum geradezu lächerlich, ein Relikt der Karajan-Ära.

Und überhaupt war der ganze Maestro-Kult doch lediglich eine „Mutation des 20. Jahrhunderts“. Ins gleiche Horn stieß Edwin Baumgartner in der „Wiener Zeitung“: „Die Aufmerksamkeit, die ein Chefdirigent genießt, steht in keinem Verhältnis zu seiner tatsächlichen Bedeutung für die Welt.“ Tom Service schlug im Londoner „Guardian“ vor, die Philharmoniker sollten auf die Berufung eines künstlerischen Leiters ganz verzichten. Stattdessen könnten sie dazu übergehen, mit verschiedenen Dirigenten jeweils nur saisonweise zusammenzuarbeiten. Sich also in diesem Jahr von einem Spezialisten für Alte Musik inspirieren lassen, im nächsten dann von einem besonders intimen Beethoven-Kenner, bevor im dritten vielleicht ein Avantgarde-Anwalt die Stabführung übernimmt.

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Die Berliner Philharmoniker suchen keinen Messias

Natürlich liegt allen diesen Kommentaren ein fundamentales Missverständnis zugrunde. Die Berliner Philharmoniker sind in Wahrheit nämlich gar nicht auf der Suche nach einem Messias, einer Lichtgestalt mit globaler Ausstrahlung. Sondern einfach nur nach einem Menschen, mit dem sie gerne ihre Zeit verbringen. Sie sind so selbstbewusst, dass sie für die Rubrik music director eigentlich keinen berühmten Namen brauchen, um international zu punkten. Aber wenn sie morgens zur Probe mit dem Chef fahren, möchten sie sich freuen – auf eine inspirierende Arbeit, auf fruchtbare Diskussionen, geführt auf Augenhöhe.

Genauso geht es natürlich auch den anderen Berliner Orchestern, die derzeit auf Chefsuche sind, dem Deutschen Symphonie-Orchester und dem Rundfunk-Sinfonieorchester, weil Tugan Sokhiev respektive Marek Janowski angekündigt haben, ihre Verträge im Sommer 2016 auslaufen zu lassen.

Der Musikerjob bringt es mit sich, dass man ständig sehr eng aufeinanderhockt, auf dem Podium, in den Umkleideräumen, auf den Tourneen. Da erweist es sich als förderlich für die Atmosphäre, wenn die Chemie zwischen Instrumentalisten und Taktgeber stimmt. Weil Orchester gleichzeitig höchst emotionale Kollektive sind, wird sich eine vollständige Einigkeit über das perfekte künstlerische Profil nie herstellen lassen. Doch als Faustregel gilt, dass wenigstens 60 Prozent der Belegschaft mit der Führungsspitze einverstanden sein sollten. Wenn es sich aber bei der Wahl am 11. Mai tatsächlich so zugetragen hat, wie hinter vorgehaltener Hand zu hören ist, dass es einen zahlenmäßig zu geringen Abstand zwischen der Befürworter- und der Gegnerfraktion Christian Thielemanns gegeben habe, dann war die Entscheidung des Philharmoniker-Wahlvorstands genau richtig, das Prozedere abzubrechen, um allen Beteiligten weitere Bedenkzeit einzuräumen.

Der Chefdirigent soll das Orchester weiterentwickeln

Der Chefdirigent unterscheidet sich vom Gastdirigenten vor allem dadurch, dass er auch vor und nach den Konzerten für seine Musiker da ist. Als väterlicher Freund gewissermaßen, ebenso für die kleinen Alltagssorgen ansprechbar wie auch interessiert daran, das Orchester weiterzuentwickeln. Im Idealfall sind seine abendlichen Auftritte nur die Spitze eines Eisbergs aus Arbeit, dessen allergrößter Teil unterhalb des öffentlichen Wahrnehmungshorizonts liegt.

Es gibt unzählige Zeitfresser im Leben eines Chefdirigenten: Die Sponsorenpflege gehört dazu, die Präsenz bei Probespielen für wichtige Solo-Positionen im Orchester sowie Sitzungen, bei denen zum Beispiel über Marekting- und Werbefragen nachgedacht wird. Hinzu kommt der ganze Komplex Musikvermittlung vom Schulprojekt bis zum Tag der offenen Tür. Da sind weiterhin die komplexen Vorbereitungen für Gastspielreisen, da ist der diplomatisch sensible Prozess der Programmabstimmung zwischen dem, was sich die Musiker wünschen, und dem, was der Chef als notwendig für die Entwicklung des Ensembles erachtet.

Beim DSO und RSB haben sich Findungskommissionen zusammengefunden

Wenn es darum geht, die beste Künstlerpersönlichkeit für diesen Job zu finden, lastet bei den Berliner Philharmonikern die Verantwortung ausschließlich auf den Schultern der Musiker. Bei anderen Orchestern ist sie breiter verteilt. Für die Chefdirigentensuche beim Deutschen Symphonie-Orchester (DSO) und beim Rundfunk-Sinfonieorchester (RSB) haben sich jeweils Findungskommissionen zusammengefunden, in der den Musikervertretern gleich mehrere Partner zur Seite stehen.

Weil beide Ensembles zur Rundfunkorchester und -chöre GmbH gehören, sitzt neben dem orchestereigenen Management immer auch Thomas Kipp mit am Tisch, der Geschäftsführer der hauptstädtischen Klassik-Holding, die vom Deutschlandradio, dem Bund, dem Land Berlin und dem RBB finanziert wird. Das Letztentscheidungsrecht über jede Personalie liegt in dieser organisatorischen Konstruktion bei den Gesellschaftern, erläutert Willi Steul, der Intendant des Deutschlandradios: „Es wäre aber natürlich dämlich, den Musikern einen ungeliebten Dirigenten aufzuzwingen.“ Genauso sieht es auch DSO-Orchesterdirektor Alexander Steinbeis: „Die enge Einbindung der Musiker ist das Wichtigste, ich würde im Traum nicht daran denken, gegen das Orchester zu entscheiden.“

Es bleibt spannend in der Berliner Klassikszene

Während die Musiker ihren Favoriten unter rein musikalischen Gesichtspunkten auswählen, hat Steinbeis natürlich auch den internationalen Klassikmarkt im Blick, schätzt ab, welchen Bekanntheitsgrad der Betreffende bereits hat und welche Chancen sich im Tourneegeschäft ergeben würden. Während bei den Berliner Philharmonikern die strenge Regel gilt, dass der künstlerische Leiter keinen Zweitjob haben darf, macht es DSO und RSB nichts aus, wenn ihr Musikdirektor parallel auch noch ein Engagement an einem anderen Ort hat. Dadurch erweitert sich der Kreis der potenziellen Kandidaten beträchtlich.

Es wird also spannend in der Berliner Klassikszene in den nächsten Monaten. So ungern die Orchester Simon Rattle, Tugan Sokhiev und Marek Janowski auch ziehen lassen – es handelt sich nicht um gescheiterte Ehen. Beziehungen zwischen Dirigenten und Orchestern sind Lebensabschnittspartnerschaften: Sich selber durch den Wechsel an der Spitze regelmäßig neu herauszufordern, gehört zu den Privilegien der fest angestellten Musiker. Dabei gilt stets das Samuel-Beckett-Motto: „Ever failed? Try again. Fail better.“ Zu Deutsch: „Gescheitert? Wieder versuchen. Besser scheitern.“

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