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Höhepunkt der Reise. Philharmoniker auf dem Weg in Sydneys Oper.

© Monika Rittershaus

Berliner Philharmoniker: Das Ende des Regenbogens

Rattle sei Dank: Auf ihrer Australien-Tournee finden die Berliner Philharmoniker zum legendären Karajan-Klang zurück.

Man kann die Konzerte der Berliner Philharmoniker in Sydneys Opernhaus als epochales Ereignis bezeichnen. Denn die erste Reise von Simon Rattle und seinen Musikern zum fünften Kontinent war weit mehr als eine musikalische Leistungsschau. Für viele Australier war sie die Erfüllung eines Traumes.

Dass die Philharmoniker hier sehnlichst erwartet wurden, verrät schon die besondere Atmosphäre, die an diesen vier Abenden in Australiens berühmtestem Bauwerk herrscht. Fiebrig angespannt ist die Stimmung in dem großen, akustisch der Berliner Philharmonie nicht unähnlichen Saal des Opernhauses, und der frenetische Begeisterungstaumel am Ende scheint Rattle und die Musiker jedes Mal aufs Neue zu überraschen. Man spürt, dass dieses Publikum jede Sekunde so intensiv wahrnehmen will wie möglich und mehr noch: dass der Besuch des berühmtesten Orchesters der Welt als Zeichen empfunden wird, dass man mit dazugehört und dass die in Europa ihre ausgewanderten Vettern am anderen Ende der Welt nicht vergessen haben. Es wäre keine Überraschung, wenn in Australien jetzt ein Rattle-Effekt einsetzte: Vielleicht haben diese Konzerte vielen hier klar gemacht, dass die Klassik auch ihre Musik ist und von ihren eigenen Idealen und Träumen spricht. Denn auch wenn es in Australien eine redliche Klassikpflege gibt, braucht es doch die emotionale Vergegenwärtigungskraft eines Spitzenorchesters, um die Tradition am Leben zu halten.

Vor allem deshalb sind die Konzerte im Opernhaus Sydney der Höhepunkt dieser Tournee, die das Orchester über Abu Dhabi und Perth bis nach Singapur geführt hat. Die Philharmoniker müssen geahnt haben, dass hier das Zentrum ihrer Reise sein würde. Während die Auftritte in Singapur und Abu Dhabi isolierte Konzerte waren, wurde der Aufenthalt in Sydney durch zwei ambitionierte Projekte zur umfassenden Image-Präsentation erweitert: Ein Mahler-Remix mit australischen Schülern und eine Zusammenarbeit mit dem Didgeridoo-Virtuosen William Barton stehen für das soziale und multikulturelle Profil, das die Philharmoniker pflegen und das im Einwanderungsland Australien gut ankommt. Die Begeisterung hier, beschreibt es Simon Rattle später im Gespräch, sei wie beim „Trip to Asia“, als in Taiwan 40 000 Menschen im strömenden Regen ausharrten, um die Liveübertragung des Philharmoniker-Konzerts mitzuerleben. Es ist kein Wunder, dass über eine Wiederkehr 2016 verhandelt wird – dann nicht nur nach Sydney und Perth, sondern möglichst auch nach Melbourne und Brisbane.

Wenn die Konzerte der Philharmoniker in Australien wie eine Offenbarung gefeiert werden, liegt das allerdings auch daran, dass sie es in musikalischer Hinsicht auch sind. Denn die Abende zeigen, dass der große Umbauprozess, den Rattle bei seinem Amtsantritt 2002 begann, jetzt abgeschlossen ist. Erstaunlich ist vor allem die Homogenität, die das Orchester bis in die von Rattle geforderten Extreme hinein bewahrt. Im gleißend energiegeladenen, doch niemals hemdsärmeligen Fortissimo der Blechbläser, im schlackenlosen pianissimo der Streicher, das auf den kleinsten Fingerdruck Rattles nachzugeben scheint, in der eloquenten Kantabilität der Holzbläser, die ganz natürlich aus dem musikalischen Fluss aufzublühen scheint. Ein Orchester, das so perfekt die Virtuosität des einzelnen Musikers mit der Idee des Aufgehens in der Gruppe verschmilzt, taugt als Modell für das 21. Jahrhundert.

Vielleicht die wichtigste Nachricht: Jetzt ist auch der alte Philharmoniker-Klang, das kostbare Relikt der Ära Karajan wieder da, dessen Verlust vor Jahren von einigen Kritikern konstatiert worden war. Nicht verloren war er, sondern nur von Rattle zur Grundüberholung auseinander genommen worden. Die Philharmoniker haben jetzt wieder zur warmen Helligkeit ihres Brahms-Tons gefunden, können aber auch den trockenen Humor, den der Chef für eine Haydn-Sinfonie verlangt, oder den saftig-glamourösen Hollywood-Sound, der Rattle für Rachmaninows „Sinfonische Tänze“ vorschwebt.

Die große Ferntournee, die die Philharmoniker einmal pro Jahr unternehmen, ist der Gradmesser dieses Prozesses. Für die Öffentlichkeit, aber auch für die Musiker, die sich selbst noch einmal anders hören als im Normalbetrieb der Konzertserien in der Berliner Philharmonie. Und auch, weil sich hier zeigt, ob das musikalische Einverständnis zwischen dem Chef und den Musikern länger als für die regulären drei Konzerte der Berliner Abo-Reihen hält. In Australien funktioniert das beeindruckend gut. Selbst bei einem Stück wie Mahlers erster Sinfonie, die das Orchester seit Saisonbeginn schon fast ein Dutzend Mal gespielt hat, schafft es Rattle immer wieder, jedem Konzert die Aura des Spontanen zu geben und auf den Saal, das Publikum und die Stimmung der Musiker zu reagieren. Beim Mahler in Sydney beispielsweise, indem er die Streicher ermuntert, das Pianissimo bis an die Grenze des Hörbaren zu treiben, bei Brahms’ Zweiter in Singapur dagegen, indem er die Zügel wieder straffer zieht.

Fehlt diesem Orchester überhaupt noch etwas? Vielleicht noch das letzte Quantum an emotionaler Eindringlichkeit. Die dunklen Seiten, die eine Brahms-Sinfonie zu einer wehmütigen, Mahler und Rachmaninow zu einer aufbegehrenden oder auch todtraurigen Erfahrung machen. Die Philharmoniker präsentieren sich auf dieser Tournee als Orchester, das mit einer atemberaubenden Sinnlichkeit und Schönheit des Klangs überwältigt. Darin ist Rattle der Erbe Karajans. Und irgendwie müssen die Philharmoniker das gespürt haben, als sie ihm ihre Zukunft anvertrauten.

Jörg Königsdorf

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