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Die Berliner Philharmoniker schafften es nicht, sich auf einen Nachfolger für Simon Rattle zu einigen.

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Berliner Philharmoniker: Konklave und Community

Es geht ein Riss durch die Berliner Philharmoniker, die sich selbst und ihre Unabhängigkeit gerne als Demokratie-Lehrstück ins Licht rücken. In der Debatte, wer Simon Rattle beerben könnte, verbirgt sich auch die Frage, wie stark sich Kunst eigentlich gesellschaftlich legitimieren muss. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Ulrich Amling

Weißen Rauch über Berlin aufsteigen sehen – das wollten die Klassikfans aus aller Welt am Montag. In Blogs und Tweets verfolgten sie über den Tag hinweg zunehmend ungeduldig, wen die Berliner Philharmoniker zu ihrem neuen Chefdirigenten wählen würden. Niemand hatte daran gedacht, dass das Konklave der weltbesten Musiker in der Nacht zu Dienstag ohne Ergebnis zu Ende gehen könnte, die 124 Wahlberechtigten selbst auch nicht. Doch ein neues Kapitel ihrer Geschichte vermochten sie auch nach über elfstündiger Klausur nicht aufzuschlagen.

Am Tag nach der Wahl wird hämisch kommentiert

Das einzige Orchester der Welt, das seinen künstlerischen Leiter selbst bestimmt, scheint zutiefst verstrickt zu sein in ein Ringen mit Symbolik und Tradition, Selbstbild und Zukunft. Die Musikerrepublik begibt sich vor aller Augen in einen Prozess, der den Nimbus einer Papstwahl hat – und nach einer Reihe von unprofessionellen Vertröstungen schließlich scheitert. Am Tag danach wird das hämisch kommentiert: Den Musikern wird Stümperei im Umgang mit den berühmten Maestri-Kandidaten vorgeworden. Werden die sich jetzt hüten, noch als Chef in Berlin antreten zu wollen?

Doch die Philharmoniker sind keine Kardinäle, die einfach so lange wählen, bis sie einen aus ihrer Mitte zum Papst küren. Es geht ein Riss durch dieses Orchester, das sich selbst und seine Unabhängigkeit gerne als Demokratie-Lehrstück ins Licht rückt. In der Debatte, wer Simon Rattle beerben könnte, verbirgt sich auch die Frage, wie stark sich Kunst eigentlich gesellschaftlich legitimieren muss. Unmöglich scheint es, dass sich die Philharmonie nach den Jahren der Öffnung wieder in einen Hort rein ästhetischer Weltflucht verwandelt. Doch die Sehnsucht danach ist stark und findet in Christian Thielemann ihren Wunschkandidaten. Dass er bei der Wahl am Montag nicht durchzusetzen war, darf als gutes Zeichen gelten.

Das Orchester muss sich Kritik gefallen lassen

Kritik müssen sich die Philharmoniker dennoch gefallen lassen. Wenn es ihnen wirklich darum geht, den eigenen Weg zur Entscheidung zu schützen, brauchen sie keine wartenden Kameras vor Kirchentreppenstufen. Auf die Inszenierung eines kurzzeitigen Hypes um das autonome Orchester folgt der lange Schatten von Mutmaßungen, welche Zerwürfnisse wohl einer Entscheidung entgegenstanden. Der Versuch, Musiker beständig auf ihre Demokratieverträglichkeit abzuklopfen, kann fruchtlos sein. Wenn es um die Kunst geht, ist die Fähigkeit zum Kompromiss nicht immer das höchste Gut.

Binnen eines Jahres soll neu abgestimmt werden

"Ganz grundsätzlich unterschiedliche Positionen" habe es im Orchester zur eigenen Zukunft gegeben, sagte Vorstand Peter Riegelbauer nach dem Wahltag ohne Erwählten. Jetzt wolle man sich intern weiter beraten und binnen eines Jahres erneut abstimmen. Doch geht das, einfach so zur Tagesordnung überzugehen? Müssten die Philharmoniker die Diskussion darüber, was es künftig heißt, das beste Orchester der Welt zu sein, nicht teilen wie die Links auf ihrer Facebook- Seite? Dort reagiert Gary Chu Zeron aus Hongkong genervt über die schleppende Informationspolitik zur Chefdirigentenwahl. Stundenlang keine News. Als Fan des Orchesters blieb er mit Freunden bis 3 Uhr 33 Ortszeit wach. Er ist der Einzige, der in dieser Nacht noch eine Antwort bekommt; entschuldigend, eine gute Nacht wünschend.

Es geht um eine Kultur der Teilhabe

Follower zu haben, bleibt nicht ohne Folgen. Weltweit als authentisches Markenprodukt präsent zu sein, auch nicht. "Wir brauchen dieses Orchester als Leitstern!" sagte Simon Rattle lange vor seiner Wahl zum Chef der Philharmoniker. Das bedeutet nicht allein, Beethoven besser zu spielen als alle anderen. Es geht um eine Kultur der Teilhabe – wer Spitze ist, wirkt in die Breite. Diese Herausforderung haben die Berliner Philharmoniker unterschätzt. Am Montag misslang ihnen nicht nur die Wahl, sondern auch der Spagat zwischen Konklave und Community. Das tut weh. Aber darauf bis zur nächsten Abstimmung mit Rückzug zu reagieren, ist keine Option.

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