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der neue Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, Kirill Petrenko.

© dpa

Berliner Philharmoniker wählen neuen Chefdirigenten: Kirill Petrenko: Reif für die Weltkarriere

Die Berliner Philharmoniker haben sich entschieden: Sie wollen mit Kirill Petrenko in die Zukunft schreiten. Er wird ihr neuer Chefdirigent. Das verspricht viel.

Der Schlussakkord von Edward Elgars 2. Sinfonie verklingt, der ausverkaufte Saal scheint kurz durchzuatmen, dann bricht der Jubel los. Kirill Petrenko gibt den Musikern einen Wink, der bedeutet, dass sie jetzt aufstehen und den Erfolg genießen können. Doch die Berliner Philharmoniker bleiben geschlossen sitzen. Um dem Mann, der sie gerade durch eine atemberaubende Interpretation geführt hat, ihrerseits zu applaudieren. Eine Ehre, die Dirigenten äußerst selten widerfährt.

Schon damals, am 8. Mai 2009, hätte man ahnen können, dass sich zwischen den beiden mal etwas ganz Großes entwickeln könnte. Und dennoch hatte keiner Kirill Petrenko auf dem Schirm, als sich die Philharmoniker anschickten, einen Nachfolger für Simon Rattle zu finden. Weil da diese komische Sache im vergangenen Dezember passiert war. Gustav Mahlers sechste Sinfonie sollte der russische Maestro mit den Philharmonikern einstudieren, die Proben hatten begonnen – aber dann war er plötzlich verschwunden.

Offiziell hieß es, Petrenko sei krank geworden. Doch gleichzeitig ging das Gerücht um, die Musiker hätten durch den Portier des Hyatt-Hotels erfahren, der Maestro sei überstürzt abgereist, um ja nicht in die engere Wahl als Nachfolger gezogen zu werden. Vielleicht, weil er in seinem bisherigen Dirigentenleben vor allem ein Opernexperte war und sich womöglich nicht kompetent genug gefühlt für einen ganz aufs Sinfonische fokussierten Job. Andere meinten, dem scheuen Petrenko sei die Rolle des Philharmoniker-Chefs vielleicht zu exponiert.

Nun aber haben sie ihn doch auserkoren. Im zweiten Anlauf. Und fast geheim. So geheim immerhin, dass am Sonntag die Journalisten nicht vor der Tür des philharmonischen Wahllokals kampierten wie beim ersten Durchgang am 11. Mai. Im Laufe der Nacht allerdings sickerte der Name des 43-Jährigen dann doch durch, so dass die offizielle Verkündung Montagmittag in der Philharmonie nur noch eine Bestätigung war.

Albrecht Mayer ist deswegen ziemlich sauer. Zusammen mit vielen seiner Orchesterkollegen ist der Solo-Oboist zur Verkündung erschienen. „Ich weiß nicht, wie oft wir uns gegenseitig darauf eingeschworen haben, nichts herauszulassen“, schimpft er, „weder gegenüber unseren Familien noch den Mitarbeitern der Philharmonie – und dann das!“

Kirill Petrenko: "Ich umarme das Orchester"

Dennoch ist es eine gute Nachricht, in doppelter Hinsicht. Die Philharmoniker haben eine künstlerische Perspektive für die Zeit nach Rattles Abschied im Sommer 2018 – und in Kirill Petrenko einen Künstler, der den Imageschaden vergessen lässt, den der erste, nach elf Stunden ergebnislos abgebrochene Wahlgang am 11. Mai verursacht hat. „Heute ist ein toller Tag für uns!“, sagt Intendant Martin Hoffmann und überlässt das Mikrofon dann den Musikern. Peter Riegelbauer, der Kontrabassist, macht den Anfang, erklärt, „die Musiker haben sich mit großer Mehrheit für Petrenko entschieden“, und berichtet, der Auserwählte habe am Telefon sofort zugesagt und zwar mit den Worten: „Ich umarme das Orchester!“  

Bevor er das Mikrofon weitergibt, wiederholt er seine Worte auf Englisch – denn die Digital Concert Hall ist live zugeschaltet, die eigene Internet-Plattform der Philharmoniker, mit der sich eben nicht nur Konzerte, sondern auch Ereignisse wie dieses in alle Welt übertragen lassen. Der Bratscher Ulrich Knörzer erzählt von Petrenkos erstem Philharmonie-Auftritt 2006: Anschließend sei im Orchester nicht, wie sonst üblich, die Frage diskutiert worden, ob man den Debütanten erneut einladen solle. Es waren sich alle einig, dass er schnellstmöglich wiederkommen müsse.

Zum  Schluss verlesen noch Olaf Maninger, der Cellist, und Stanley Dodds von der Geigengruppe zweisprachig die Grußworte des Dirigenten: „Ich kann es gar nicht in Worte fassen“, beginnt der kurze Text, in dem es um das Schwanken zwischen Euphorie und Zweifel geht und der mit der Hoffnung auf „viele tolle Momente des künstlerischen Glücks“ endet. Weitere Details lassen sich die Musiker nicht entlocken. Nur so viel: Um 9 Uhr morgens waren sie am Sonntag bereits zusammengekommen, es gab zwei große Diskussionsrunden, um 12 Uhr konnte Riegelbauer bei Petrenko anrufen.

Über Vertragsdetails wurde demnach noch nicht geredet, nicht über die Zahl der Programme, die der künftige künstlerische Leiter dirigieren wird, noch nicht einmal darüber, wann die Ära Petrenko beginnen soll. „Möglichst bald nach 2018“ hofft das Orchester. So lange jedenfalls ist der russische Maestro noch der Bayerischen Staatsoper verpflichtet.

Als Simon Rattle heute vor 16 Jahren von den Philharmoniker als Erbe Claudio Abbados auserkoren wurde, befand er sich gerade mit seiner Familie auf Safari in Afrika. Für den Fall des Wahl-Falles hatte er einen Dankes-Dreizeiler bei seinem Agenten hinterlassen. Kirill Petrenko erreichte die Botschaft in München, bei der Arbeit. Dennoch hat er sich am Montag nicht in den Flieger gesetzt, um sich in der Philharmonie als neuer Chefdirigent feiern zu lassen. Anders als Rattle liegt ihm der Umgang mit der Öffentlichkeit gar nicht.

Petrenko gilt als großer Schweiger

Er gilt als der große Schweiger unter den Dirigenten im internationalen Klassikbusiness. Interviews gibt er schon lange nicht mehr, und wenn er doch mal an einer Pressekonferenz teilnehmen muss, dann wirkt er auf berührende Weise scheu – und ehrlich bescheiden. Bei der Präsentation der Münchner Saisonpläne erklärte er jüngst, es erfülle ihn mit Ehrfurcht, am Ort der Uraufführung Richard Wagners „Meistersinger“ zu dirigieren. Und obwohl er ein echter Star ist, einer, um den sich die wichtigsten Institutionen weltweit reißen, glaubt man ihm, dass diese Formulierung keine eitle Pose ist. Denn Petrenko ist einer, der sich als Diener am Werk sieht, und darum mit seinen Musikern leidenschaftlich darum ringt, bis in die tiefsten Schichten einer Partitur vorzudringen.

Von Triumph zu Triumph.

So ein Arbeitsethos kostet Kraft und Zeit. Darum wird er auch sein Engagement bei den Bayreuther Festspielen früher beenden als Fans und Intendanz auf dem Grünen Hügel sich das wünschen. In diesem Sommer will er bei Frank Castorfs „Ring des Nibelungen“-Inszenierung im Graben walten, 2016 wird Marek Janowski an seine Stelle treten. Damit Petrenko sich ganz auf seine Münchner Pflichten konzentrieren kann.

Dabei liegt Bayreuth ihm sehr am Herzen, so sehr, dass er sich vor zwei Wochen unerwartet deutlich aus der Deckung wagte. „Zutiefst irritiert“ zeigte er sich „in Bezug auf den würdelosen Umgang“ mit der Ko-Intendantin Eva Wagner-Pasquier, der ein „Hügelverbot“ auferlegt wurde, angeblich auf Betreiben des Dirigenten Christian Thielemann. Der gilt als wichtigster Wagner-Interpret seiner Generation und geriert sich in Bayreuth als Herrscher des Hügels. Ein aufgeschnappter Gesprächsfetzen des Dirigenten reicht offenbar aus, um die Gesellschafter in Panik zu versetzen. Nachdem er damit gedroht haben soll, die Premiere von „Tristan und Isolde“ platzen zu lassen, falls Eva Wagner-Pasquier während der Probenphase im Festspielhaus aufkreuze, ersann der Gesellschaftersprecher Georg von Waldenfels einen Beschluss, in dem stand, dass „eine Absenz von Eva Wagner-Pasquier im genannten Zeitraum notwendig“ sei. Allein, dass er seine Kollegen nicht im Stich lassen wolle, erklärte Petrenko, halte ihn davon ab, bereits in diesem Sommer seine Mitwirkung in Bayreuth aufzukündigen.

Als 23-Jähriger dirigiert er seine erste Oper

Just jenen Christian Thielemann hat Kirill Petrenko nun also bei den Philharmonikern aus dem Feld geschlagen. Beim ersten Wahlgang hatten seine philharmonischen Fans eine große Fraktion innerhalb des Orchesters mobilisiert. Doch für eine „deutliche Mehrheit“, wie sie die Statuten vorsehen, reichte es nicht.

So verschlossen wie heute war Kirill Petrenko allerdings nicht immer. 2002 zeigte sich der blutjunge Chefdirigent der Komischen Oper durchaus auskunftsfreudig und erzählte seine Lebensgeschichte: 1972 wird er in Omsk geboren, in Westsibirien. Seine Eltern sind beide Musiker, früh beginnt er mit dem Klavierspiel, tritt mit elf Jahren als Solist in seiner Heimatstadt auf. Nur wenig später beschließt er: Ich will doch lieber Dirigent werden!

Seine Eltern drängen ihn trotz der enormen Begabung nicht zur Virtuosen-Laufbahn, geben sogar die eigene sichere Existenz auf, um dem Sohn die optimale Ausbildung zu ermöglichen. Aus Omsk, wo die Musikerfamilie zur Intelligenzija-Elite gehört, gehen die Petrenkos 1990 erst nach Vorarlberg, 1993 dann nach Wien, um den Sohn in der Dirigentenschmiede des legendären Hans Swarowsky unterzubringen. Eine fremde Welt, eine neue Sprache, eine ungewohnte Mentalität – der Start in Österreich gestaltet sich schwierig. Doch die Familie hält zusammen.

Dann geht es alles ganz schnell: Als 23-Jähriger dirigiert Kirill seine erste Oper in der Provinz, zwei Jahre später leitet er „Don Giovanni“ im Schlosstheater Schönbrunn. 1998 steht er erstmals am Pult der Wiener Volksoper, ein Jahr später wird er Musikchef in Meiningen. Der russische Shootingstar erarbeitet sich im Eiltempo Repertoirekenntnisse und wagt es zu Ostern 2000 sogar, zusammen mit der Regisseurin Christine Mielitz den „Ring des Nibelungen“ unter Bayreuth-Bedingungen herauszubringen, also alle vier Premieren innerhalb einer Woche.

„Mein Beruf ist es, die Komponisten so gut wie möglich zu vertreten“, sagte der junge Maestro  mit dem Mecki-Haarschnitt und den verschmitzt blitzenden Augen 2002. Wenn er in den Proben manche Orchesterstellen unerbittlich wiederholen lässt, bis sie technisch perfekt sitzen, wenn er die Musiker bis an den Rand des Zumutbaren triezt, dann nicht aus übertriebenem Ehrgeiz, sondern immer nur mit Blick auf die Qualität der abendlichen Aufführung. „Strenge ist für mich der Gegenbegriff zu Pragmatismus. Wenn eine Passage schwer ist, kann ich sie langsamer nehmen, um dem Orchester entgegen zu kommen. Wenn ich aber aus interpretatorischen Gründen davon überzeugt bin, dass sie schnell gespielt werden muss, darf ich mich nicht mit Kompromissen zufrieden geben.“

Mit dieser Einstellung macht sich Kirill Petrenko überall Freunde. Als er 2007 die Komische Oper verlässt, ist er reif für die Weltkarriere – und schlägt erst einmal sämtliche Chef-Posten aus, die man ihm anbietet. Erst zum Herbst 2013 lässt er sich an die Bayerischen Staatsoper verpflichten.

 Die Philharmoniker stellen einen Blankoscheck aus

Den Berliner Philharmonikern genügten drei Begegnungen mit diesem Ausnahmekünstler, um in ihm den Maestro zu erkennen, mit dem sie in die Zukunft gehen wollen. Und dass, obwohl er bislang kein einziges Stück ihres Kernrepertoires mit ihnen erarbeitet hat. Weder Sinfonien von Beethoven noch von Brahms oder Bruckner, überhaupt nichts aus der deutschen Romantik zwischen Schumann und Strauss. Am Sonntag haben die Philharmoniker also einen künstlerischen Blankoscheck ausgestellt. Kirill Petrenko, da darf man sich sicher sein, garantiert, dass er gedeckt ist.

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