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Berliner Philharmoniker: Was die Welt zusammenhält

Wer wird Rattle-Nachfolger? Jeder Auftritt eines Gastdirigenten bei den Berliner Philharmoniker, gilt natürlich gleichzeitig als Probedirigat. Auch bei Yannick Nézet-Séguin ist es nicht anders.

Wie soll man sich nur benehmen, wenn man als Dirigent nachhaltigen Eindruck bei den Berliner Philharmonikern hinterlassen, gar für die Rattle-Nachfolge in Betracht gezogen werden will? Yannick Nézet-Séguin, 39 Jahre jung, befeuert Orchester zwischen Montreal, Rotterdam, London und Philadelphia mit der unerschütterlichen Energie eines Eintänzers. Seine Aufmerksamkeit scheint dabei überall zu sein, weil er potenziell allen gefallen will. Damit kann der Frankokanadier einen unwiderstehlichen Klassiksog entfachen, bei dem es mitunter egal ist, wohin die Richtung eigentlich geht.

In der Philharmonie steht für Nézet-Séguin zunächst die höfliche Verbeugung auf dem Programm: Andreas Blau, seit 1969 Soloflötist der Philharmoniker, erreicht das Rentenalter – und tritt noch einmal als Solist vor Kollegen und Publikum. Zu diesem Zweck liegt das Flötenkonzert von Carl Reinecke auf den Pulten, eine Rarität, die stilistisch weit hinter dem Uraufführungsjahr 1909 zurückbleibt. Blaus Erfahrungsreichtum lässt ihn souverän seine Runden ziehen – und Oberhand behalten über schwärmerische Ausbruchsversuche. Nézet-Séguin steuert dazu nur das Nötigste bei, holt das Werk nicht aus der Zuspätgekommenen-Ecke und geizt ganz untypisch mit Charme. Es gilt allein die freundliche Geste.

Mahler kann man so nicht dirigieren, hier kommt es zum Schwur. Man spürt, wie intensiv Nézet-Séguin mit den Philharmonikern für die Vierte geprobt hat, wie viele Details er aus der Partitur herausliest und mit Verve auf seine Klangleinwand wirft. Doch teuflische Dinge geschehen, je mehr das Bild sich füllt. Der Ton rutscht weg, zuerst quer durch Mahlers Werke, mit hinlänglichen Aufenthalten beim Adagietto der Fünften. Dann schlittert er weiter, streift Brahms breitseitig, ehe er frontal in Tschaikowsky rauscht. Den dirigiert Nézet-Séguin immer gerne, weil er zu wissen glaubt, dass viel hier besonders viel hilft. Doch dass die Welt auseinanderstrebt, hat Mahler seinen Werken bereits eingeschrieben. Sie trotz allem noch einmal zusammenzusetzen, ist die Vision des Komponisten. Yannick Nézet-Séguin, der jedem Philharmoniker sein Ohr zu schenken scheint, bleibt ihr überschäumend vieles schuldig.

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