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Ein Nest in Kreuzberg. Jacalyn Carley und Dieter Heitkamp in ihrem Stück „Looping“ (1981).

© Udo Hesse

Berliner Tanzfabrik feiert 40. Jubiläum: Die Fleetwood Mac der Tanztheaterwelt

Jung, wild, verliebt: Die Berliner Tanzfabrik brachte die Aufbruchsstimmung der Studentenbewegung auf die Bühne und prägte die freie Szene der Stadt. Eine Würdigung zum 40-jährigen Jubiläum.

Von Sandra Luzina

Die Berliner Tanzszene hat reichlich Grund zum Feiern. Das Festival „Tanz im August“ begeht in diesem Jahr sein 30-jähriges Jubiläum. Sasha Waltz & Guests können auf 25 Jahre zurückblicken. Im Kreis der Jubilare ist die Tanzfabrik Berlin das älteste Geburtstagskind. Vor 40 Jahren wurde sie in einer Fabriketage in der Kreuzberger Möckernstraße gegründet. Die deutschen und amerikanischen Tanzenthusiasten hatten sich damals zum Ziel gesetzt, den zeitgenössischen Tanz in Berlin zu fördern und weiterzuentwickeln. Und genau das versucht die Tanzfabrik auch heute noch. Zum Jubiläum hat sie die Losung „Remembering the Future“ ausgegeben.

Wenn man heute mit den Pionierinnen und Pionieren der Siebziger und Achtziger spricht, dann erzählt zwar jeder eine etwas andere Version der bewegten Geschichte. Doch aus ihren Erzählungen geht eines hervor: Um das Jahr 1978 herrschte in West-Berlin Aufbruchstimmung. David Bowie war in der Stadt, die „taz“ wurde gegründet, Schaubühne und Grips Theater waren noch jung, die Maler wurden „Neue Wilde“. Und es entstand die Freie Szene.

Ein Haufen verrückter Leute, die sich ausprobierten

„Es lag in der Luft, dass man hier mit den WGs und dem Tanz so eine spiritual energy hatte. Das hatte einfach etwas ganz Kraftvolles“, erinnert sich Jacalyn Carley. Die Amerikanerin, die in Philadelphia ihren Bachelor in Tanz erworben hatte, war bereits 1976 mit der Group Motion beim Festival „Pantomime Musik Tanz Theater“ in der Akademie der Künste am Hanseatenweg aufgetreten. Und die Stadt hatte es ihr angetan.

Es war ein Haufen verrückter Leute, die sich in Berlin begegneten und einfach loslegten. Es ging um neue Bewegungsformen, ein vertieftes Körperwissen und um ein neues künstlerisches Selbstverständnis. Die Keimzelle bildeten Christine Vilardo, die von der Zero Moving Company in Philadelphia kam, und Reinhard Krätzig, der eigentlich Sport studierte. Um die beiden scharte sich eine Gruppe Gleichgesinnter.

Berlin war damals eine Tanz-Wüste

„Die Tanzfabrik war der Schirm, unter dem ganz verschiedene Ansätze realisiert wurden von Post Modern, Performance, Tanztheater. So etwas hat es in der Breite nirgendwo gegeben“, stellt Dieter Heitkamp fest. Berlin war damals eine Tanz-Wüste, es gab nur das Opernballett, keine Angebote an modernem Tanz. Doch es gab einen großen Hunger nach alternativen Formen. Die Tanzfabrik führte nicht neue Praktiken wie die Contact Improvisation ein, sie knüpfte auch an die unterbrochene Tradition des Ausdruckstanzes an. Jacalyn Carley und Christine Vilardo hatten beide in Philadelphia mit dem Mary-Wigman-Schüler Hellmut Gottschild zusammengearbeitet. Als eine „elektronische, Hippie-artige Fortsetzung von Wigman“ beschreibt Carley heute die Group Motion.

Die Tanzfabrik mit ihrem demokratischen Tanzverständnis war in jeder Hinsicht ein Kind der Siebziger. „Wir waren beeinflusst von der Studentenbewegung, ich war auch engagiert in der Frauenbewegung“, erzählt Claudia Feest, die in der Tanzfabrik-WG wohnte. Leben und arbeiten unter einem Dach, das sei manchmal sehr chaotisch gewesen. Tagsüber wurde geprobt, abends unterrichtet. Die Schule war eine Einnahmequelle, und man baute ein eigenes Publikum auf.

Sex und Humor

Die Tanzfabrik war auf vielen Feldern ein Vorreiter: weltweit vernetzt und von Anfang an interdisziplinär. Und auch international auf Gastspielreisen erfolgreich. Musiker, Schauspieler, Filmer waren an den Produktionen beteiligt. Neue Formate und Bewegungsstile verbanden sich mit emanzipatorischen Gedanken. „Es gab nicht diese Geschlechterfestlegung, die Frauen haben dies zu tanzen, die Männer jenes, es war alles fließend“, sagt Feest. Die Schwulenbewegung war stark. Deswegen war es auch ein Politikum, dass die schwulen Männer in der Gruppe ihre Homosexualität zum Thema machten.

„Ausgangspunkt waren immer persönliche Beziehungen“, erinnert sich Heitkamp, der viele Stücke für die Tanzfabrik kreiert hat, darunter das bildstarke „Whodidwhattowhom“ sowie „Buddy Bodies“ mit Helge Musial und mit Gayle Tufts „Der Riss“ oder „Kompass durch den Sumpf“. Bei den Proben habe sie mal mit Stühlen geworfen, erzählt Tufts. „Wir waren sehr leidenschaftlich damals.“ Tufts, die heute als Entertainerin große Erfolge feiert, stieß 1988 zu dem Kollektiv und machte bis 1994 mit. Ihre Erfahrung bringt sie so auf den Punkt: „Die Tanzfabrik besaß zwei wichtige Dinge: Sex und Humor. Wir waren alle ineinander verliebt, konnten miteinander kämpfen und lachen. Es war sehr intensiv und kreativ. Das klingt wie die Fleetwood Mac der Tanztheaterwelt.“

Mit der Zeit entwickelte man sich auseinander

Prägend waren von Anfang an die Choreografien von Jacalyn Carley, mit ihrer Lust an der Literatur. Texte von Gertrude Stein und Raymond Federman hat sie zur Vorlage genommen, aber auch Kompositionen von John Cage. Zu ihren bekanntesten Stücken gehören „Schwitters Ursonate“ und die Gedicht-Choreografien nach Ernst Jandl, die sie zusammen mit Martin Schurr erarbeitet hat.

Sie habe immer viel Wert auf gute Tanztechnik gelegt, erzählt sie. Die anderen suchten ihr Heil in der Improvisation. So hat man sich mit der Zeit auseinanderentwickelt. Natürlich drehten sich die typischen Konflikte auch darum, wer neue Stücke produzieren durfte, denn die Förderung der Freien Szene durch den Senat, die damals erst eingeführt wurde, reichte nicht für alle.

Carley hat die Tanzfabrik nach 15 Jahren wegen künstlerischer Konflikte verlassen, heute schreibt sie Bücher und malt und arbeitet für ein US-College. Heitkamp wurde 2001 als Professor für zeitgenössischen Tanz an die Hochschule für Musik und Darstellende Kunst nach Frankfurt/Main berufen, wo er ein neues Ausbildungsmodell entwickelt hat. Bei seinem Abschied aus Berlin stand er mit vielen auf Kriegsfuß: „Ich hatte das Gefühl, dass Graswurzel-Arbeit hier nicht wirklich geschätzt wird.“

Immer noch ein wichtiger Ort der Produktion und Präsentation

Die Tanzfabrik hat die Entwicklung des freien Tanzes in Berlin entscheidend geprägt. Sie ist längst nicht mehr das einzige Tanzzentrum, aber immer noch ein wichtiger Ort der Produktion und Präsentation. 2017 gab es 12 Premieren und 99 Vorstellungen in Berlin, 10 Koproduktionen, 58 Residenzen in Kooperation mit dem europäischen Netzwerkprojekt „apap“ und 14 Vollresidenzen.

Was sich durch die Jahrzehnte zieht, ist der Kampf um Förderung. „In den letzten zehn Jahren haben wir die räumlichen Rahmenbedingungen stark verbessert und die finanziellen Mittel zwar verdoppelt, das Arbeitsvolumen hat sich jedoch vervielfacht“, sagt der jetzige Leiter Ludger Orlok: „In Zukunft brauchen wir mehr Möglichkeiten, größere Gruppen zu unterstützen.“ Die Gründerväter und Pioniermütter treffen sich an diesem Wochenende nach Jahren wieder zum Kaffeeklatsch. Für die jungen Wilden von einst interessieren sich heute die Akademiker und die Archive. Die Geschichte geht weiter.

Videoinstallation „Kollektives Erinnern“, 16. bis 22.7., ab 18 Uhr im Uferstudio 12, Wedding. Dort auch: Gayle Tufts im Gespräch mit Heike Albrecht, 19.7., 20.30 Uhr.

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