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Kultur: Bernward Vesper: Der tödliche Pop-Rausch

Dass dies das letzte "autonome" Hauptseminar am Deutschen Seminar der Universität Freiburg sein würde, ahnten im Grunde schon alle. "Mir ist heiß", schrieb eine der ganz Jungen an die Tafel, weil Nina Hagen das im Wintersemester 1978 / 79 öffentlich gemacht hatte, und sie schien das schon ein bisschen anders zu meinen als die hundert altgedienten Recken, die noch einmal abseits der Lehrstühle ein Seminar organisieren und sich selbst die Scheine ausstellen wollten.

Dass dies das letzte "autonome" Hauptseminar am Deutschen Seminar der Universität Freiburg sein würde, ahnten im Grunde schon alle. "Mir ist heiß", schrieb eine der ganz Jungen an die Tafel, weil Nina Hagen das im Wintersemester 1978 / 79 öffentlich gemacht hatte, und sie schien das schon ein bisschen anders zu meinen als die hundert altgedienten Recken, die noch einmal abseits der Lehrstühle ein Seminar organisieren und sich selbst die Scheine ausstellen wollten. Man hatte noch einmal einen linken Professor dazu kriegen können, seinen Namen dafür herzugeben.

Es war kein Zufall, dass sich dieses Seminar Bernward Vesper widmete, dessen einziges Buch "Die Reise" im Jahr davor erschienen war. Vesper passte in diese Zeit des Übergangs. Sein Buch war ein Buch der politischen Desillusionierung, und es verband die Ideale der Generation von 1968 mit dem Lebensgefühl der Generation danach, als Popmusik und Drogenerfahrung die politische Eindeutigkeit durchdrangen.

Man fühlte sich bereits vereinzelt und horchte noch einmal den Phantasien von gemeinsamer Aktion und politischer Bedeutung nach, und einige Arbeitsgruppen erstellten Aufsatzsammlungen von bis zu hundert Seiten. Ungefähr zehn Jahre später traf ich, als freier Mitarbeiter einer Lokalzeitung, beim Warten auf die Ankunft der Eiskunstläuferin Katharina Witt aus der DDR, einen der Wortführer wieder, der im Reader seiner Gruppe Sätze formuliert hatte wie: "Es verbinden sich also zwei Elemente, die die Identifikationsbereitschaft Ende der 70er Jahre entscheidend bedingen, d. h. die Rezeption, die die eigene Resignation unter der Überich-Beruhigung des Ja-doch-Politisiertseins sanktioniert..." Er war inzwischen Sportredakteur bei der "Esslinger Zeitung" - der dritte, wie er mir gleich erklärte, an Fußball dürfe er nicht ran.

"Die Reise" war das große literarische Dokument des Scheiterns der bundesdeutschen Linken, und dieses Scheitern war bei Bernward Vesper auch ein existenzielles. So konnte er, als Protagonist der 68er-Bewegung, eine Symbolfigur für diejenigen werden, die danach kamen und nur noch die Endmoränen vorfanden. Vespers Entwicklung schien typisch zu sein: Er war der Sohn des NS-Blut- und Bodendichters Will Vesper und klebte noch als 15-Jähriger 1953 Plakate für die rechte "Deutsche Reichspartei". Schon im ersten Semester 1962 in Tübingen lernte er Gudrun Ensslin kennen, die wie er Stipendiatin der "Studienstiftung des deutschen Volkes" war, gab mit ihr 1964 den Band "Gegen den Tod - Stimmen deutscher Schriftsteller gegen die Atombombe" heraus und engagierte sich 1965 im "Wahlkontor deutscher Schriftsteller" für die SPD.

Mit der politischen verband sich jedoch auch eine später mythisch aufgeladene persönliche Geschichte. Vesper war Gründer der "Voltaire Flugschriften" und gehörte zu den wichtigsten Köpfen der außerparlamentarischen Opposition, und 1967 kam das gemeinsame Kind von Vesper und Ensslin zur Welt. Doch ein halbes Jahr nach der Geburt ihres Sohnes verließ Gudrun Ensslin Vesper wegen Andreas Baader - es war die Keimzelle der späteren "Rote Armee Fraktion" (RAF). Baader war weniger ein Intellektueller als ein Mann der Aktion, der auch eine so brillante Analytikerin wie Ulrike Meinhof zur Militanz anstiften konnte. Die Spannung zwischen gesellschaftlicher Analyse und revolutionärem, gewalttätigen Handeln, die zwischen 1968 und 1970 in der bundesdeutschen Linken entstand, zeigte sich in Bernward Vesper unmittelbar privat.

Nach dem Zerfall der Apo zog sich Vesper 1969 auf das väterliche Gut Triangel im Süden der Lüneburger Heide zurück und begann, seinen autobiografischen Versuch "Die Reise" zu schreiben: um sein "Leben zu überprüfen" wie er es sich selbst programmatisch verordnete. Im Februar 1971 wurde er in die Psychiatrische Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf eingewiesen, nachdem er in einem Wahnzustand die Wohnung von Freunden verwüstet und sich ihnen als "Heilsbringer" gezeigt hatte. Am 15. Mai, vor dreißig Jahren, brachte er sich mit einer Überdosis Schlaftabletten um: im Alter von 33, als einer von denen, die an der 68er-Zeit persönlich zerbrachen - das genaue Gegenteil jener Biografien also, denen diese Generationserfahrungen in der Folge das Rüstzeug zu scheinbar ungeahnten bürgerlichen Karrieren mitgaben.

Die Gattungsbezeichnung "Romanessay" weist darauf hin, dass es sich um höchst unterschiedliche stilistische Stränge handelt, die Vespers Buch durchziehen. Genaue Kindheits- und Jugenderinnerungen mit dem alles beherrschenden faschistischen Vater führen eindringlich vor Augen, wie es zum Aufbegehren dieser Generation gegen ihre Väter kam. Dazwischen bildet sich das Gespinst aus politischen Theoremen und radikaler Selbstbefreiung, das Anfang der siebziger Jahre immer dichter wurde, in Vespers essayistisch-ausrufenden Stakkati ab. Und ebenso suggestiv wie bewusstseinsentrückt sind die experimentellen Prosapassagen, die versuchen, LSD-Trips zu vergegenwärtigen - es gibt vereinzelt auf den mit Datum gezeichneten Blättern des Manuskripts auch Ausrufezeichen wie "Grüner Türkischer", "Roter Libanon" oder "Schwarzer Afghan", die zusammen mit den Prosaschüben ein Patchwork ergeben, einen Pop-Rausch aus Kunst und Leben, mit einer Radikalisierung der subjektiven Wahrnehmung, die zu dieser Zeit höchstens bei Rolf-Dieter Brinkmann ein Pendant hatte.

Es ist die Einheit von Leben und Werk, die radikale biografische Konsequenz, die Vespers "Reise" zu einem Schlüsseltext für seine Zeit werden ließ. Es war der wohl letzte Moment, an dem ein bürgerliches Ich tragisch an der Gesellschaft zugrunde ging, und der große Widerspruch zwischen Individuum und Gesellschaft ist Vespers Prosa bis in die kleinsten Glieder abzulesen. Er bemüht sich noch bei der detailliertesten Selbstanalyse, die radikale Sprache der Gesellschaftskritik, ja des Gesellschaftshohns beizubehalten - und misst sich dadurch bis zum Schluss an der großen Kompromisslosigkeit des Terroristen Andreas Baader, der für Bernward Vesper vor allem ein Terrorist im subjektivsten, emotionalen Bereich gewesen sein muss.

Die unheimliche Sehnsucht

Als "Die Reise" 1977, sechs Jahre nach dem Tod des Autors, erschien, befand sich die RAF, die irrwitzige Zuspitzung der 68er-Linken, auf ihrem Kulminationspunkt: Es war das Jahr der Schleyer-Entführung und des Tods von Baader, Meinhof und Ensslin im Hochsicherheitstrakt in Stuttgart-Stammheim. Man kann Vespers Buch und seine Biografie als schwarze Folie hinter der Selbstzerstörung der RAF-Mitglieder sehen. Liest man die Geschichten von Gudrun Ensslin und Bernward Vesper parallel, erkennt man trotz der extrem unterschiedlichen Verläufe an der Oberfläche dieselbe Grundstruktur. Bei der einen geht die Aggressivität nach außen, beim andern, spätestens durch die Schnittstelle 1967, nach innen.

Die RAF wie auch das theoretische und private Ungestüm der 68er sind mittlerweile historisch geworden, und als historische Gegenstände unterliegen sie zur Zeit einem auffallend aktualisierten Interesse. Die anachronistische Debatte um Joschka Fischers militante Vergangenheit, aber auch der Widerhall, den der 25. Todestag von Ulrike Meinhof kürzlich in den Medien gefunden hat, weisen auf den Reiz hin, der über ein reines Pop-Phänomen hinausgeht, auch ein Film wie "Die innere Sicherheit" setzt darauf - ein Stoff aus der jüngeren, biografisch noch nachvollziehbaren Geschichte ruft etwas bisher Verborgenes hervor.

Am deutlichsten hat die unheimliche Sehnsucht, die hier mitschwingt, der 1969 geborene Leander Scholz in seinem Roman "Rosenfest" verzeichnet: er versucht, die Geschichte von Gudrun Ensslin und Andreas Baader psychologisch nachzustellen und die beiden als "Helden" zu dekonstruieren. Der Roman ist fast überall voreilig verrissen worden, und dass er sprachliche Schwächen hat, ist offenkundig. Aber er hat einen Nerv getroffen: Scholz versucht, die Verzweiflung hinter der vermeintlichen Souveränität seiner Figuren zu zeigen, ihre ins Leere gelaufene Bürgerlichkeit, und setzt sich gleichzeitig der Faszination ihres radikalen Ausbruchsversuchs aus. Sein Roman ist ein Indikator dafür, was in der Luft liegt: im dahinplätschernden Einerlei der Medien und des außer Kraft gesetzten Subjekts entsteht eine Gloriole um ehemals klar umrissene Frontstellungen; es lodert eine Zeit auf, in der es anscheinend noch ein Ich gab und eine dagegen zu definierende Gesellschaft. Da war Tragik möglich, dramatische Zuspitzung, ja sogar ein nachgetragener Sinn.

Dass man 1978 ein Seminar über "Die Reise" abhielt, war schlüssig und nicht weiter verwunderlich. Die Geschichte war zwar abgeschlossen, sah aber noch anders aus. Vesper stand immer noch dafür, dass die Selbstbefreiung des Subjekts und gesellschaftliches Denken dasselbe sein konnten. Jetzt würde der Akzent wohl anders liegen. In Bernward Vesper ist jene Sehnsucht bereits implodiert, die heute immer noch freie Radikale zeitigt. Wer Baader und Meinhof denkt, sollte Bernward Vesper mitdenken.

Helmut Böttiger

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