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Kultur: Beschwörung der untergegangenen Zeit

Valery Gergiev und Mikail Pletnev kämpfen in der Philharmonie für Rachmaninows Rehabilitation

Ach ja, der Beifall. Verlegen, fast zerstreut wirkt Mikail Pletnev, als er sich den Ovationen in der Philharmonie stellt, scheint mit kleinen Gesten die Begeisterung eher dämpfen zu wollen. Als sei er mit seinen Gedanken schon wieder längst woanders. Als sei ihm gerade eben wieder ein ganzer Haufen Dinge aufgefallen, über die erst einmal gründlich nachgedacht werden müsse. Der 43-jährige Pletnev ist der große Grübler unter den Pianisten. Einer, der überall auf Sinnsuche ist, jede Note auf die Wagschale seines Musikergewissens legt und sich konsequent dem bloßen Fortschreiben von Aufführungskonventionen verweigert.

Für ihr erstes Konzert in Deutschland hatte die 1999 von Alexandre Rachmaninow, dem Enkel des Komponisten, gegründete Rachmaninow-Foundation dem Pianisten Mikail Pletnev „Rach 3“ anvertraut, das dritte Klavierkonzert, den mythisierten Gipfel der Virtuosenliteratur. Um das immer noch virulente Vorurteil gegen Rachmaninow als eines Komponisten blendender Unterhaltungsklassik an der Schwelle zum Edelkitsch zu widerlegen, hätte es wohl keine bessere Wahl geben können. Was für das Werk ebenso gilt wie für den Interpreten. Denn Pletnev, der das Werk auch gerade in einer faszinierenden Einspielung vorgelegt hat (Deutsche Grammophon), macht mit dem vermeintlichen Reißer Ernst und entdeckt hinter der virtuosen Brillanz einen melancholischen Abgesang auf eine untergegangene Zeit.

Zurückgenommen, zögernd, lässt er schon das berühmte, volksliedartige Hauptthema einfließen, stoppt immer wieder den Fluss, setzt die Erinnerung aus schillernden Mosaiksteinen zusammen. Die abrupten Stimmungsumschläge innerhalb weniger Takte, die für Rachmanonows Kompositionsstil so charakteristisch sind, begreift Pletnev nicht als wirkungsvolle Showeffekte, sondern macht sie durch bewusste Überpointierung als Brüche hörbar. Immer wieder steht der Kopfsatz an der Schwelle zum Versiegen, scheint Pletnev fast wider Willen weiterzuspielen.

Dabei folgt er freilich einem zwingenden dramaturgischen Verlaufsplan: Die Erinnerung wird im Stückverlauf immer mehr zur Kraftquelle, führt schlüssig zu den emotional aufgepeitschten Kadenzen und zum auftrumpfenden Finale, das einen geradezu apotheotischen Charakter gewinnt: Die triumphalen, fanfarenbegleiteten Steigerungen mutieren zum Versprechen einer strahlenden Zukunft, das Konzert wird zum Weltenentwurf gar nicht unähnlich den energetischen Visionen, die Rachmaninows Landsmann Aleksandr Skriabin gleichzeitig verfasste. Und verblüffend nahe am universalen Anspruch einer Mahler-Sinfonie – dass Mahler selbst 1910 in New York eine der ersten Aufführungen mit Rachmaninow am Klavier leitete, wird da zu einem durchaus einleuchtenden historischen Faktum.

All den Rachmaninow-Größen von Horowitz bis Volodos und auch der Eigenaufnahme des Komponisten zum Trotz – so scharfsinnig reflektiert ist Rachmaninow bislang wohl noch nie gespielt worden. Und so leise wohl auch nicht: Die Berliner Staatskapelle mit Valery Gergiev grundiert diesen vierzigminütigen Monolog mit mit feinen Farben, sichert den formalen Zusammenhalt des ganz vom Klavier her gedachten individuellen Entwicklungsprozesses.

Nach der Pause hat Gergiev mit der ausufernden zweiten Sinfonie (in der gekürzten, immer noch gute 55 Minuten dauernden Fassung) ohnehin Gelegenheit, ausgiebig in sinfonischem Sound zu schwelgen. Natürlich kennt der Chef des Petersburger Marinsky- Theaters und derzeit wohl berühmteste russische Dirigent dieses Werk aus dem Effeff: Valery Gergiev sorgt bei diesem Luxusdampfer der spätromantischen Sinfonik für Opulenz und Sentiment, ohne das Stück auf Grund laufen zu lassen. Die nostalgischen Gefühligkeit wird zwar nicht hinterfragt, aber doch in ein Spannungsverhältnis zu den klar gezeichneten Verlaufskurven des formalen Aufbaus gestellt. Das ist nicht wenig. Und hätte Mikail Pletnev nicht vorher gezeigt, dass Rachmaninow noch wichtigeres zu sagen hat, wäre man damit vermutlich auch ganz zufrieden gewesen.

Jörg Königsdorf

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