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Das Chaos der Gefühle im Medizinbetrieb. Die französische Autorin Maylis de Kerangal, 48.

© Anne-Christine Poijjoualt/FP

Bestseller aus Frankreich: Herzen einbauen

Geht unter die Haut: Maylis de Kerangals Medizin- und Transplantations-Roman „Die Lebenden reparieren“.

Ein junger Mann stirbt bei einem Autounfall. Sein Herz wird transplantiert, es schlägt weiter im Körper einer 51-jährigen Frau. Das ist, in dürren Sätzen, die Handlung von Maylis de Kerangals Roman „Die Lebenden reparieren“, der vor einem Jahr auf Französisch erschien, sechs Literaturpreise erhielt und zum Bestseller wurde. Diese Handlung ist so schlicht wie ungewöhnlich. Schon die Frage, wer hier die Hauptfigur ist, ist schwer zu beantworten. Etwa das Herz?

In den Morgenstunden eines eisigen Februartages bricht der 20-jährige Simon Limbres mit seinen Surfer-Kumpels auf, um bei Le Havre die Welle des Jahres zu reiten. Mit halb erfrorenen Gesichtern, euphorisch und total erschöpft kehren die Freunde heim; zu erschöpft offenbar auch der Fahrer des Surfer-Vans. Die Eltern finden ihren Sohn im Krankenhaus äußerlich fast unversehrt vor, mit schlagendem Herzen. Aber Simons Gehirn ist nach dem Aufprall im Blut ertrunken, er ist klinisch tot. Für die Medizin aber ein ideales organisches Ersatzteillager. Kaum haben sie den Tod ihres Sohnes realisiert, müssen die Eltern über die Organentnahme, die Zerstückelung seines Körpers entscheiden. Quälende Selbstvorwürfe bleiben nicht aus: Der Vater, ein Bootsbauer, hat Simon für den Wassersport begeistert.

Kerangals Erzählstruktur ist rhizomatisch

Das Chaos der Gefühle und die Routinen des medizinischen Betriebs werden im Roman der 1967 geborenen Autorin hart gegeneinandergeschnitten. Aber bei aller notwendigen und wünschenswerten Sachlichkeit wird auch der Apparat der Transplantationschirurgie von ihrerseits sorgengeplagten Menschen am Laufen gehalten: Ärzten und Krankenschwestern, Koordinatoren des Organaustauschs, Spezialisten für die Verpflanzung von Herzen, Lebern, Nieren. Sobald diese Menschen ins Blickfeld geraten, werden auch ihre persönlichen Welten, biografischen Hintergründe, Familienverstrickungen und Lebensprobleme aufgefächert. Immer wieder setzt der Roman so an unerwarteten Existenzpunkten an. Da ist der Anästhesist, der selbst unter schwerer Schlaflosigkeit leidet und sein Bett als Ablage für die Plattensammlung zweckentfremdet hat. Da ist die Krankenschwester, die an ein Liebesabenteuer denkt und auf den Anruf des Mannes wartet, mit dem sie die Nacht verbracht hat.

Das klingt vielleicht nach Krankenhausserie, ist es aber nicht. Kerangal versucht ein hochkomplexes Geschehen durch eine geflechtartige, rhizomatische Erzählstruktur darzustellen, die ohne linienförmigen Plot und ohne Hauptfigur auskommt. Wo für die einen die gewohnte Welt in schwarzer Trauer untergeht, vermeldet die gerade unter ihrem Nikotinentzug leidende Ärztin im Büro des Zentrums für die Zuteilung von Spendeorganen freudig: „Ich habe ein Herz!“ Und in einer anderen Stadt ergibt sich für eine Schwerkranke, von der nun auch erzählt wird, ein Hoffnungsschub: Klappt es diesmal mit der Transplantation?

Chirurgische Präzision, mikroskopische Genauigkeit – solche Assoziationen stellen sich auch bei Maylis de Kerangals Stil ein

Es ist ein harsches Nebeneinander inkommensurabler Erfahrungen, das der Roman virtuos in Szene setzt. So kommt zum medizinischen ein philosophisches Thema: „die Zersplitterung der Welt, die absolute Diskontinuität der Wirklichkeit, das unendliche Auseinanderstreben der menschlichen Wege“.

Frankreich war literarisch schon immer sehr körperbetont. Die Miseren und Freuden der Leiblichkeit sind dort ein zentrales Thema; man denke nur an Houellebecq. Groß ist auch das Interesse an Menschen in medizinische Grenzsituationen, wie in „Ziemlich beste Freunde“ oder „Schmetterling und Taucherglocke“. Auch „Die Lebenden reparieren“ geht unter die Haut, ins medizinische Detail. Die Operationen werden irritierend genau beschrieben und Aspekte wie die Gewebeverträglichkeit oder das Abstoßungsrisiko bei einer Transplantation erörtert. Medizinhistorie gerät in den Blick, etwa die Ablösung der kardiozentrischen Epoche, für die der ausbleibende Herzschlag über den Todeszeitpunkt entschied, durch das Paradigma des „Hirntods“.

Chirurgische Präzision, mikroskopische Genauigkeit – solche Assoziationen stellen sich auch bei Maylis de Kerangals Stil ein. Er nimmt das Tempo heraus, geht in die Zeitlupe, die Sätze werden lang und länger, erstrecken sich bisweilen über Seiten (Proust lässt grüßen), bleiben aber immer gut lesbar, nicht zuletzt dank der geschmeidigen Übersetzung von Andrea Spingler. Es gibt viele treffende, auch gewitzte Formulierungen, etwa wenn es über einen Chirurgen heißt: „Arme wie ein Catcher, Finger wie eine Spitzenklöpplerin“. Der Titel zitiert Tschechow. „Die Toten begraben und die Lebenden reparieren“, so die lakonische Devise des Landarztes Trilezki im Drama „Platonow“. Dass man die Lebenden mit den Toten repariert, konnte er noch nicht wissen.

Maylis de Kerangal: Die Lebenden reparieren. Roman. Aus dem Französischen von Andrea Spingler. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 255 Seiten, 19,95 €.

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