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Zu Füßen des Vesuvs. Blick auf Neapel, dem Schauplatz von Elena Ferrantes vierbändiger Saga.

© imago/Kickner

Bestseller von Elena Ferrante: Neapel sehen und leben

„Meine geniale Freundin“: Der erste Teil von Elena Ferrantes weltweit gefeierter Saga um zwei Frauen ist endlich auch auf Deutsch zu lesen.

Ein beiläufiger Satz: „Ich sehne mich nach unserer Kindheit zurück. Sie war voller Gewalt.“ Und schon beginnt man, in Elena Ferrantes Welt einzutauchen. Eine bedrohliche Welt, in der gelacht und gemordet wird, voller Verrat und mafiöser Strukturen, aber mit einem festen Freundschaftsfundament, auf dem die Ich-Erzählerin Elena und ihre geniale Freundin Lila stehen.

Elena ist die ängstliche Tochter eines Pförtners, Lila das ungebärdige Kind des Schusters. Ihre Familien leben mitten in einem rauen Viertel von Neapel, in dem, so lernen es die Mädchen, Gerechtigkeit mit Prügeln und Messern hergestellt wird.

Lila, die eigentlich Raffaela heißt, ist frech, wissbegierig und schnell im Kopf. Elena dagegen ist nur brav und fleißig. Lila wächst zu einer Schönheit heran. Elena ist nur hübsch. In der Schule wetteifern sie miteinander und bleiben sich fremd. Erst als Lila in einer prekären Situation unvermutet nach Elenas Hand greift und diese merkt, dass auch Lila Angst haben kann, ändert sich alles. Mit sechs Jahren werden sie Freundinnen, auch wenn ihre Freundschaft von Anfang an aus Argwohn und Hinwendung gewoben ist. Wer ist intelligenter, wer hilft der anderen, wer triumphiert über wen?

Elena sucht nach Spuren der verschwundenen Lila

Über 60 Jahre später erinnert sich Elena an die gemeinsame Kinderzeit. Lila ist verschwunden und hat alle Spuren verwischt. In ihrer Verzweiflung und Wut sucht Elena die Freundin in der Vergangenheit, hält sie in Bildern und Momenten fest, um sie nicht zu verlieren. Sie ist entschlossen, Lila zurückzugewinnen und ihr zugleich eins auszuwischen. Wenn die Freundin alle Spuren löschen will, dann wird sie sie schreibend wiederherstellen.

Und so erzählt sie von den Eltern und der Nachbarschaft, der Schule und den Geschwistern, von der Konkurrenz zwischen den Freundinnen und ihrer Nähe. Elena darf weiter in die Schule gehen, als Lila gezwungen wird, in der Schusterei mitzuarbeiten. Nebenbei lernt sie Griechisch. Denn Elena hat ihr vorgeprahlt, dass sie mit der Sprache im nächsten Schuljahr anfangen werde. Bevor Elena auch nur ihre Nase in ein Griechischbuch gesteckt hat, hat Lila längst das Alphabet gelernt und Vokabeln gebüffelt. Und fragt nun ihre Freundin ab. Paukt ihr ein, was sie selber als angehende Schusterin nicht lernen darf.

Kirchgänge, Ehebruch und Mordanschläge

Elena lernt mehr für ihre Freundin als für die Schule. Aus Freude an der Zusammenarbeit und aus Neid auf Lilas Auffassungsgabe. Aus dem dringenden Wunsch, ihre Freundin zu überbieten.

Es ist ein bestrickend ehrliches, wenn auch manchmal konstruiertes Freundschaftsbild, das Elena Ferrante hier zeichnet. Da wird nichts lieblich verziert, keine gefühligen Girlanden werden gebunden. Die beiden Mädchen brauchen einander, sie wollen einander retten und ausstechen. Eingebettet ist die Geschichte ihrer Freundschaft ins neapolitanische Arbeitermilieu der fünfziger Jahre. Strenge Sitten und Regeln, Kirchgänge, Ehebruch und Mordanschläge werden als Alltag unter dem so diskreten wie unübersehbaren Herrschaftsschirm der Camorra erzählt.

Es gibt erste Liebschaften, vergebliche Glückssuche, familiäre Wut und weibliche Unterwerfung. Lila wird mit 16 verheiratet. Und behauptet, glücklich zu sein. Ihr Bräutigam hat Geld. Sauberes Geld, denkt Lila. Doch im letzten Satz des Romans, mitten auf ihrem eigenen Hochzeitsfest, begreift sie: Auch er gehört zur Camorra. Und sie ist seine Beute.

Der Roman erschien vor fünf Jahren und wurde in 39 Sprachen übersetzt

„Meine geniale Freundin“ ist der erste Band einer vierbändigen Neapel-Saga, die in 39 Sprachen übersetzt und weltweit millionenfach verkauft wurde. Warum sich so lange kein deutscher Verlag vom internationalen Ferrante-Fieber hat anstecken lassen, ist nicht ganz begreiflich. Der Roman erschien bereits 2011. 2015 wurde er von der BBC zu einem der bislang bedeutendsten Werke dieses Jahrhunderts gewählt. Kritiker überschlugen sich vor Begeisterung. Roberto Saviano, der berühmte Mafia-Durchleuchter, schlug ihn für den bedeutendsten italienischen Literaturpreis, den Premio Strega, vor. Und der letzte Band der Tetralogie wurde 2016 für den International Man Booker Prize nominiert. Jetzt sollen die nächsten drei Bände in schneller Folge bei Suhrkamp erscheinen. Und gewiss werden auch hierzulande viele nach der Lektüre des ersten Romans sehnsüchtig – oder gar süchtig – die nächsten erwarten.

Weltberühmtes Phantom: Elena Ferrante ist ein Pseudonym

Zu Füßen des Vesuvs. Blick auf Neapel, dem Schauplatz von Elena Ferrantes vierbändiger Saga.
Zu Füßen des Vesuvs. Blick auf Neapel, dem Schauplatz von Elena Ferrantes vierbändiger Saga.

© imago/Kickner

Ferrante schreibt intelligente Bücher, die sich verschlingen lassen. Die englische „Times“ hat es auf den Punkt gebracht: Hier treffe Balzac auf die Sopranos. In der Tat bietet Ferrante beste Unterhaltung und eindringliche Milieustudien. Da schreibt eine Frau, die sich auskennt mit Familien- und Mafiastrukturen, mit rigiden Verhaltenscodices und der selbstverständlichen Unterdrückung von Frauen. Wenn es sich bei ihr denn um eine Frau handelt.

Tatsächlich weiß niemand, wer sich hinter dem Pseudonym Elena Ferrante, das an die hochgerühmte Schriftstellerin Elsa Morante erinnert, verbirgt. Sie ist ein inzwischen weltberühmtes Phantom, und nicht nur in Italien ist die Suche nach der wahren Person hinter der Literatur ein literarisches Gesellschaftsspiel.

Sie gibt nur schriftliche Interviews

Seit ihrem Debüt im Jahre 1992 hat sich Elena Ferrante für die Anonymität entschieden. Vollendete Romane, soll sie gesagt haben, bräuchten keine Autorenschaft. Sie finde es grotesk, dass Schriftsteller als Personen heutzutage wichtiger seien als ihr Schreiben. Der „New Yorker“ berichtet, sie habe außerdem erklärt, dass sie angesichts teurer Werbung die billigste Autorin im Verlag sein wolle. Auch müsse man sie nicht als Person ertragen. Das klingt ein wenig kokett, denn ganz aus der Öffentlichkeit mag Ferrante offenbar nicht verschwinden. Sie gibt schriftliche Interviews mit auffallend wohlgesetzten Formulierungen, die immer wieder so klingen, als kämen sie aus einer Konserve.

Ferrante-Fans aus den USA und England strömen nach Neapel

Die Fans schreckt das nicht. Unter dem Hashtag „ferrantefever“ wird eifrig getwittert, und es gibt eine Ferrante-Website. Englische und amerikanische Ferrante-Touristen strömen nach Neapel, wo es bereits die ersten Ferrante-Pizzas gibt. Kein Wunder auch, dass dem „Guardian“ zufolge aus der Saga eine Fernsehserie mit 32 Folgen werden soll. Der Wirbel um die geheimnisvolle Autorin droht manchmal schon die Literatur zu überdecken. Dabei ist Elena Ferrante eine versierte Schriftstellerin, die bildreich, packend und atmosphärisch dicht erzählt. Es mangelt ihr höchstens an der Feinheit eines Tons, der zwischen den Zeilen neben der wirklichen auch eine mögliche Erzählung mitklingen lässt. Doch das ungenierte Lesevergnügen, das ihre Bücher bieten, ist verführerisch. Und so rührt der einzige Verdruss beim letzten Satz vor allem daher, dass man nicht gleich zum nächsten Buch greifen kann.

Elena Ferrante: Meine geniale Freundin. Roman. Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 422 Seiten, 22 €.

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