zum Hauptinhalt

Kultur: Besuch in einem Totenhaus

In der Wielandstraße, Nähe Walter-Benjamin-Platz, gibt es die Galerie Bartelt. Untergebracht ist sie im Erdgeschoss eines Jugendstilhauses, befindet sich also in einer vergangenen Epoche.

In der Wielandstraße, Nähe Walter-Benjamin-Platz, gibt es die Galerie Bartelt. Untergebracht ist sie im Erdgeschoss eines Jugendstilhauses, befindet sich also in einer vergangenen Epoche. Darum betritt man dort eine Zeit und keinen Raum, wie es in alten europäischen Städten häufig vorkommt. Ich gehe dorthin, um mir die großartigen Fotos östlicher und meist unbekannter Meister anzusehen. Die junge Frau, Betreiberin und Gastgeberin, öffnet mir jedesmal die Tür zu einem leeren Raum, in dem ich bisher stets der einzige Besucher war. Daher der Eindruck, dass sie zuerst die Leere ihrer Zimmer ausstellt und erst danach das, was an den Wänden hängt. Denn unsere östlichen und ihnen ähnlichen Völker können genau das erwarten: dass wir sie in einen leeren Raum verfrachten und sie dort fast wie die Märtyrer hängen.

Ich stelle mir vor, dass die Kunstwerke in Museen und Galerien Galgen sind, für Verurteilte, Sünder, Opfer. Diese große Kunstgemeinschaft hängt überall auf der Welt, und diejenigen, die in einer unerklärlichen Gottesfurcht ins Museum aufbrechen, gehen wie zu einem Leichenschmaus oder einer Schädelstätte. Meine Galerie Bartelt hat etwas von einem Friedhof, das liegt wohl an der Stille. Die Berliner meiden dieses Haus wie etwas beinahe Ungehöriges oder den Ort eines Unfalls. Denn das wird dort gezeigt, ein Unfall des Lebens, der die Menschen Russlands und der baltischen Länder betroffen hat. Es ist ein Projekt des Daseins, das vernichtet wurde durch verschiedene Umstände, vor allem historische, aber auch viele andere, die mit dem Schicksal des Menschen und seinen selbstzerstörerischen, destruktiven und völlig irren Ideen zu tun haben. Weil der Aufenthalt auf öden Feldern, in zerbaggerten Dörfern, schmuddeligen Kämmerchen, ärmlichen Krankenhäusern und Feldlazaretten, idiotischen Ämtern, elenden Bethäusern, mit einem Wort: in den Irrenhäusern unserer Zivilisation das menschliche Subjekt in seiner Eigenschaft zeigt, selbst das Schlimmste ohne Murren zu ertragen. Ich glaube, dass man fast jeden negativen Umstand begreifen kann, außer diesem - der Hinnahme dessen, was uns geschieht. Deshalb wohl hat die Geschichte des menschlichen Elends die Menschen Russlands, des Baltikums und einiger unserer Stämme im Süden erwählt, um an ihnen Dostojewskis Fabel zu praktizieren.

So bezieht sich auch die jüngste Ausstellung in der Wielandstraße auf diese Aufzeichnungen aus einem Totenhaus, denn sie zeigt die Fotokunst von Alfonsas Budvytis aus dem Irrenhaus. Ich erinnere mich, am selben Ort die Arbeiten eines anderen Litauers, Vytautas Stanionis, und eines Russen namens Chezhin gesehen zu haben, ebenfalls Szenen voller Elend. Und dennoch gab es dort auch eine grundlose Fröhlichkeit beim Picknick zum Ersten Mai, bei militärischen Veranstaltungen, bei Hochzeiten zahnloser Dorfbewohner in einem abgelegenen Gouvernement: alles in Schlamm und Dreck, aber aus unerklärlichen Gründen gibt es auch lachende und strahlende Gesichter. Und dann kommt Budvytis, bei dem es keinen Trost gibt, sondern nur dieses Totenhaus unserer kranken Seele.

Dort kann man wieder einmal lernen. dass geistig umnachtete Menschen selbst in großen Räumen stets den verstecktesten Winkel suchen, um sich dort neben einer Schachtel billiger Zigaretten hinzuhocken, barfuß und kurzgeschoren und den Blick auf jenen Punkt gerichtet, an dem unsere Geschichte enden wird. Es gibt auch solche, die durch ein schmutziges Fenster hinausblicken in eine unklare Ferne, doch dabei nur ihr eigenes Inneres betrachten.

So sehe ich mir diese ganz stille Galerie des Wahnsinns an. Dazu kommt die Leere. Die Leere der schmutzigen und ungepflegten Krankenhausflure, die Leere der dort eingesperrten menschlichen Seelen, der leere Raum dieser Galerie, die nicht imstande ist, die Mehrmillionenstadt für ihre Existenz zu interessieren, denn auch eine große Agglomeration hat ihre eigene Leere, die ich zu diffamieren versuche. Ich selbst schäme mich in meiner Situation, denn sie beinhaltet Hartherzigkeit, Grausamkeit und manchmal Geistesgestörtheit. Ich selbst verweile in diesem Haus für Irre und unter Personen, die von fremdem Leid nichts hören wollen. Aber ich meine, dass die Galerie in der Wielandstraße mit Gewalt offen gehalten werden sollte, um das Gewissen der ansonsten friedlichen, sympathischen und freundlichen Berliner herauszufordern.

Bora Cosic

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false